Im Jahre 2008 überstieg der weltweite Urbanisierungsgrad erstmals die 50 %, d.h. seither leben weltweit mehr Menschen in Städten als im ländlichen Raum. Dies gilt mittlerweile auch für die meisten der südosteuropäischen Staaten, welche zwar immer noch durch eine große Landbevölkerung gezeichnet sind, jedoch sind hier in den letzten Jahren die Städte und ihre Bedeutung gewachsen. Da die Entwicklung von Städten Teil und Ausdruck der Geschichte sind, lohnt sich ein historischer Rückblick, um das Stadtbild in Südosteuropa zu verstehen oder es vor Ort mit anderen Augen zu erleben.
Historische Einflüsse bis zum 19. Jahrhundert
Vor dem 19. Jahrhundert haben sich verschiedene Stadttypen im südosteuropäischen Raum entwickelt, welche sich hauptsächlich in ihrem Rechtsstatus, ihren sozialen und ökonomischen Strukturen unterschieden. Eines hatten sie jedoch alle gemeinsam: die Multiethnizität. Die okzidentale Rechtsstadt nach Max Weber war durch eine eigene Rechtsverfassung der Stadt gekennzeichnet und war rechtlich und sozial klar getrennt vom ländlichen Raum. Die wirtschaftliche Trennung zwischen Stadt und Land lag darin, dass das Land den primären Sektor einnahm und die Stadt mit Nahrung und Rohstoffen versorgte, während in der Stadt handwerkliche Erzeugnisse und Dienstleistungen aus dem sekundären und tertiären Sektor angeboten wurden. Diese Städte waren v.a. in Siebenbürgen zu finden, aber auch Zagreb stellte diese Art der Stadt dar.
Im ehemaligen Dalmatien bildeten sich autonome Stadtkommunen heraus, in denen sich Stadtbürger zu gemeinsam handelnden politischen Organisationen zusammenschlossen – sogenannte Korporationen. Mitglieder in einer Korporation waren dadurch vollberechtigte Stadtbürger mit Grundbesitz, während Nicht-Mitglieder minderberechtigt waren und i.d.R. keinen Grundbesitz hatten.
Innerbalkanische Städte wie Belgrad oder Sofia waren dagegen rechtlich und sozial an die Bedingungen des byzantinischen Reiches gebunden, welches seine organisierte Bürokratie vom Zentrum Konstantinopel steuerte. Die Osmanen gründeten einige Städte in Südosteuropa, wie beispielsweise Sarajevo. Diese waren sozial und ökonomisch klar getrennt vom ländlichen Raum, hatten aber auch weder eigene Rechte, noch eine eigene Selbstverwaltung.
Nationalstaatenbildung im 19. Jahrhundert
Während west- und mitteleuropäische Städte im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung geprägt waren, begannen in Südosteuropa im Zuge der Nationalstaatenbildung die Modernisierungsbemühungen. Das Streben nach einer Ähnlichkeit zu mittel- und westeuropäischen Städten brachte einige urbane Veränderungen mit sich, angefangen mit einer ethnischen Homogenisierung durch kriegsbedingte Flucht, vertraglich vereinbarte Aussiedlung, Emigration oder gezielte Verdrängung. Bei der städtebaulichen Architektur galten vor allem Paris und Wien als die großen Vorbilder. Beispielsweise sind sowohl das Wiener Ringstraßenmodell als auch der Pariser Triumphbogen in sehr ähnlicher Weise seit dem 19. Jahrhundert in Bukarest zu finden.
Von osmanisch-islamischen städtebaulichen Traditionen wandten sich die südosteuropäischen Städte völlig ab. Durch mangelnde finanzielle Ressourcen konnten die urbanen Veränderungen jedoch nur in Ansätzen realisiert werden. Die Hauptstädte sollten zum Symbol des Nationalstaats werden und somit wurde das innerstädtische Zentrum neu geordnet: Die traditionellen Märkte wichen Verwaltungsgebäuden und Repräsentationsbauten. Es entstand eine Hybridität in den Großstädten – eine Vermischung städtischer und ländlicher Elemente, welche im äußeren Stadtrand in Form von kleinen dörflichen Häusern zu sehen war. Im Zentrum bildeten sich unterschiedliche Verkaufswege heraus. Während Waren in neu entstandenen Ladengeschäften und Kaufhäusern verkauft wurden, war gleichzeitig auch der bäuerliche Straßenhandel im Zentrum anzutreffen.
Zwischenkriegszeit und Sozialismus
In der Zwischenkriegszeit wuchsen die südosteuropäischen Städte sowohl quantitativ als auch qualitativ weiter. Die Stadt galt von nun an als Brennpunkt von Intellektualität und bürgerlicher Kultur, in denen moderne Unterhaltungsmedien wie Kino, Theater, Oper oder Ausstellungen angeboten wurden.
Im Sozialismus wurden die Hauptstädte durch den stetigen Anstieg zu Millionenmetropolen, deren Stadtbild geprägt war von sozialistischen Monumentalbauten und neuen riesigen Wohnvierteln durch Plattenbausiedlungen.
Die Transformation – südosteuropäische Städte heute
Mit der Transformation kam es zu einigen stadtstrukturellen Veränderungen. Das Modell zur albanischen Stadt von Becker und Göler (Abbildung 1) beschreiben diesen Wandel mittels der funktionalen Gliederung um 1989 und 1996. Zu sehen ist, dass es zwei getrennte Zentren im Sozialismus gab: das Administrations- und Kulturzentrum sowie das Hauptgeschäftszentrum. Daneben sind wenige kleinere Stadtteil-Versorgungszentren und dezentrale Dienstleistungen des Handwerks. Mit der Transformation sind die beiden Hauptzentren zusammengewachsen. Geschäftsstandorte sind nun verteilt im ganzen Raum. Neue Märkte sind in der Innenstadt entstanden, aber auch am Stadtrand und auf stillgelegtem Industriegebiet, wo nun neue Kleingewerbe angesiedelt sind. Die Stadt wächst seither nach außen durch neue Wohnquartiere.
Abbildung 1: Modell zur albanischen Stadt von Becker und Göler (2000)
Problematisch zu sehen ist, dass Fortschritte zumeist nur in den Groß- und Hauptstädten zu sehen sind, während die kleineren Städte eher stagnieren. Gleichzeitig hält die Landflucht in die Megazentren wie bspw. Sofia, Bukarest, Belgrad oder Athen weiter an. Es wächst die Segregation der unteren Sozialschichten und bestimmter ethnischer Minderheiten (v.a. Roma) an, was sich auch in der urbanen Diversität zeigt. In den meisten südosteuropäischen Großstädten sind Plattenbausiedlungen, desolate Roma-Viertel und dörfliche Stadtteile neben modernen Stadtzentren und gated communities vorzufinden.
Abbildung 2: Roma Unterkünfte und gated communities in Rumänien
Rückblickend scheint einer der größten Transformationsfehler aus Sicht der Stadtentwicklung gewesen zu sein, dass eine marktwirtschaftliche Steuerung auf Grundlage von privatem Eigentum eingeführt wurde, ohne dabei ausreichende Informationen über den rechtlichen Rahmen zu schaffen. Eine mangelnde gesetzlich gesicherte Raum- und Bauplanung und rechtlich ungeklärte Eigentumsverhältnisse an Grundstücken führten zu oligarchischen Eigentumsverhältnissen, Korruption und chaotischer räumlicher und städtischer Entwicklung. Jedoch sollte hierbei auch erwähnt werden, dass es durchaus ein schwieriges Unterfangen darstellen kann die postkommunistische Planungsskepsis zu überwinden und die Stadt- und Raumplanung als ein wichtiges und sinnvolles Politikinstrument zu implementieren. Nichtsdestotrotz ist ein Besuch südosteuropäischer Städte ein Erlebnis von städtischer Hinterlassenschaften vieler verschiedener Einflüsse – ein einzigartiges Aufeinanderprallen von byzantinischen, osmanischen, sozialistischen und modernen Einflüssen.
Quellen
http://www.laenderdaten.de/bevoelkerung/urbanisierung.aspx
Becker, H.; Göler, D. (2000): Stadtstruktureller Wandel in Albanien: der Transformationsprozeß im konsumorientierten Dienstleistungssektor Tiranas. In: Europa Regional 8.2000 (S. 2-21).
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Bildquellen:
https://www.cicero.de/aussenpolitik/rumaenien-fakten-zur-situation-der-roma/56827
http://www.bucharest-homes.ro/en/modern-apartment-in-private-secure-residence-dorobanti-area-rentals_275.html
Titelbild: http://tiranaworkshop10.pbworks.com/f/tir+’57.jpg
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