Die Furcht vor der „slawischen Gefahr“ und Verlusten der griechisch-makedonischen Region ist in Griechenland kein neues Thema. Doch woher kommt die Angst, die ab den 1990er Jahren durch die Unabhängigkeit des kleinen Nachbarn im Norden wieder aufkam? Warum akzeptiert die griechische Nation bis heute Makedonien nicht als selbstständigen Staat und anerkennt diesen nur unter dem Namen Ehemalige Jugoslawische Republik Makedonien? Wer Antworten zu diesen Fragen und den Ursachen dieser, nicht nur in der griechischen Gesellschaft, sondern auch in der Politik, tief verankerten anti-makedonischen Haltung sucht, ist bei Skordos geschichtspolitischer Untersuchung richtig. Gerichtet ist dieses Buch in erster Linie an ein fachkundiges historisches und politisches Publikum, aber durch seine gute Aufarbeitung, seine Erklärungen und seine Selbstreflexion ist das Werk auch für generell an der Makedonischen Frage Interessierte leicht und interessant zu lesen.

Das zentrale Argument des Werks ist, dass die „Makedonienhysterie“ und der Namensstreit seit Anfang der 90er Jahre nur unter Berücksichtigung der 40 Jahre andauernden „bürgerkriegs- und makedonienbezogenen griechischen Geschichtspolitik“ zu verstehen ist. Der Autor ist sich selbst bewusst, dass sein Forschungsbeitrag, die irrationale griechische Reaktion auf die Souveränität der makedonischen Republik in den 1990er Jahren nicht vollständig behandeln kann und sieht sie als Teil eines „größeren Erklärungspuzzles“.

Sehr ausführlich verfährt Skordos bei den Beschreibungen zur Methode und dem theoretischen Rahmen des Werks. Die Methodik der Diskursanalyse wird dargelegt und die Quellen zu den einzelnen Kapiteln präsentiert: Neben einschlägiger Fachliteratur beruht das Werk vor allem auf der Analyse von Presse- und Archivmaterial sowie bei spezifischen Kapiteln auf der Einbeziehung von weiteren Primärquellen, z.B. den jährlichen Tätigkeitsberichten der Gesellschaft für Makedonische Studien oder der Website der Panmakedonischen Union. Die historisch-theoretische Grundlage findet in der Einleitung ausführlich Platz, dabei wird verständlich übermittelt, welche Relevanz das kollektive Gedächtnis, die Geschichtspolitik, die historische Meistererzählung und die historische Generation für die Arbeit einnimmt.

Griechenlands Makedonische Frage gliedert sich in fünf, primär chronologisch angeordnete Teile, die von einem ausführlichen Einleitungskapitel sowie den Schlussfolgerungen eingerahmt werden. Zusätzlich ist jedes Kapitel mit einer Einleitung und einer Zwischenbilanz versehen, wodurch ein schneller und grober Einblick in die einzelnen Themenblöcke ermöglicht wird. Der erste Teil behandelt den Zeitraum von 1945-49 und geht der Frage nach, welche Rolle die Makedonische Frage hinsichtlich der Polarisierung der griechischen Gesellschaft gespielt hat. Anhand zeitgenössischer Presse und Fachliteratur wird aufgezeigt, dass der griechische Bürgerkrieg in den Augen der Öffentlichkeit nicht als Konflikt zwischen Griechen gesehen wurde, sondern als hellenistischer Verteidigungskampf der nationalen Fraktion gegen die slawische Verschwörung (den kommunistischen Panslawismus) – man war der Annahme, dass eine slawische Armee im griechischen Westmakedonien stationiert sei. Der „makedonisierte“ griechische Bürgerkrieg verursachte bei den griechischen Kommunisten, den Bürgerkriegsverlierern, das „Trauma des Vaterlandsverrats“, welches sich später in der breiteren Öffentlichkeit ebenfalls festigen sollte.

Der Einfluss des Bürgerkriegs der „nationalgesinnten Griechen“ – der Bürgerkriegssieger – auf die griechische Geschichtspolitik wird im zweiten, die Jahre 1950-1974 umfassenden, Teil ausführlich analysiert. Die bereits stark antikommunistische und antislawische Haltung wurde durch die bewusste Erinnerungspolitik, einerseits durch die nationale Erinnerung an das „antike Griechenland“ sowie andererseits an den „Makedonischen Kampf“ (1904-08 während osmanischer Herrschaft; 1946-49), unterstützt und geprägt. Bei den „nationalen“ Griechen setzte sich ein „manichäisch geprägter Erinnerungsdiskurs“ über den „slawokommunistischen Banditenkrieg“ durch. Außerdem wurde aus Angst vor einem möglichen dritten Makedonischen Kampf die „hellenomakedonische Identität“ gegen die „slawische Propaganda“ gestärkt.

Der dritte Part untersucht die Zeit der demokratischen Transition und Konsolidierung Griechenlands von 1974 bis zum Ende der 80er. Dabei werden die geschichtspolitischen Veränderungen der drei Erinnerungsdiskurse erklärt:  Der Bürgerkrieg sowie der Makedonische Kampf gerieten in den Hintergrund und die „unbestreitbare Hellenizität“ der antiken Makedonier wurde zum wichtigsten Argument Griechenlands, nicht nur in dieser Zeit, sondern auch in den folgenden Jahrzehnten.

Im kürzeren vierten Teil untersucht Skordos die kulturelle Transfergeschichte der hellenistischen griechischen Geschichtspolitik. Ausgehend von der makedonischen Diaspora und der „slawischen Propaganda“ in Nordamerika und Australien sah sich Griechenland veranlasst, ebenfalls eine aktivere Geschichtspolitik, die eine ursprünglich griechische Identität Makedoniens propagierte, im Ausland zu betreiben. Hierbei weicht der Autor von seinem chronologischen Aufbau ab und untersucht den gesamten Zeitraum von 1945-91.

Den fünften und somit letzten Teil bildet die Rekonstruktion des öffentlichen Diskurses in Griechenland zu Beginn des Namenstreits sowie die griechische Mobilisierung gegen die Anerkennung der Republik Makedonien – die sogenannte „heiße Phase“ von 1991-92. Skordos zeigt, dass die Erinnerung an den Bürgerkrieg, obwohl dieser großen Einfluss auf den Namensstreit hatte, im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle spielte, weil weder die Verlierer noch die Gewinner diesen hochpolitisierten Diskurs aufgreifen wollten. Forciert wurde von den älteren und auch neuen „Makedonologen“ die kollektive Erinnerung an das antike Makedonien und an den „Makedonischen Kampf“. Als Folge dieser Erkenntnis argumentiert Skordos in den Schlussfolgerungen, dass die Unabhängigkeit Makedoniens 1991 und die darauffolgende griechische Reaktion nur unter der Betrachtung der zuvor erfolgten 40-jährigen Geschichtspolitik in Griechenland analysiert und verstanden werden kann.

Relevant ist Griechenlands Makedonische Frage immer noch, denn bis zum heutigen Tage verhindern diese Erinnerungsmuster eine Lösung im Namensstreit zwischen Griechenland und den „Skopjoten“. Eine sichtbare Folge dessen ist, dass bislang eine Mitgliedschaft Makedoniens in der NATO oder der EU durch ein griechisches Veto verhindert wurde. Aus Sicht Skordos ist ein Kompromiss, ausgehend von Griechenlands politischer Elite, in naher Zukunft nicht absehbar, denn dafür müssten sie die selbstgerufenen „makedonischen Geister“ erst wieder loswerden. Die Politik ziert sich, denn zu sehr würde eine Einigung in der Öffentlichkeit noch mit „nationalem Verrat“ gleichgesetzt werden.

Dem Historiker Adamantios Skordos gelingt mit der Publikation seiner Dissertation ein fachlich ausgezeichnetes Werk rund um griechischen Nationalismus, Erinnerungskultur, Geschichtspolitik sowie die bislang ungelöste „Makedonische Frage“ und den Streit um das antike makedonische Erbe. Die von der Universität Leipzig als hervorragend benotete Doktorarbeit wurde von Skordos für die Publikation überarbeitet und gekürzt. An manchen Stellen bedarf es spezifischer historischer Vorkenntnisse der griechischen und makedonischen Geschichte, um dem Autor einwandfrei folgen zu können. Dennoch ist dieses Werk allen, die an griechischer zeitgenössischer Politik interessiert sind und das noch heute irrational anmutende Verhalten Griechenlands im Namenstreit mit Makedonien verstehen wollen, wärmstens zu empfehlen.

 

Skordos Adamantios: Griechenlands Makedonische Frage. Bürgerkrieg und Geschichtspolitik im Südosten Europas 1945-1992. Göttingen, Wallstein Verlag, 2012. (Moderne Europäische Geschichte, Bd. 2.). 440 S., ISBN 978-3-8353-0936-4