Die europäische Integration befindet sich in einer Krise – so jedenfalls lassen es die jüngsten politischen Entwicklungen auf Europaebene vermuten. Angefangen bei der Finanzkrise 2008 und 2009, über die andauernde Flüchtlingskrise und den Brexit, bis hin zu den jüngsten und anstehenden Präsidentschaftswahlen in Österreich, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden: Die Zeichen mehren sich, dass die europäischen Integrationsfortschritte vergangener Jahrzehnte auch wirtschaftliche oder politische Verlierer hervorgebracht haben, die nun ein “postfunktionalistisches[1]” Zeitalter einläuten könnten. Am Beispiel Ungarn werden im Folgenden die Aussichten analysiert, die der Postfunktionalismus auf einen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) haben kann. Hierzu bediene ich mich einer “SWOT-Analyse”, mit deren Hilfe die Stärken (strengths), Schwächen (weaknesses), Gelegenheiten (opportunities) und Bedrohungen (threats) Ungarns auf Europaebene analysiert werden. Die zentrale Annahme dieses Textes ist die Bereitschaft Ungarns, auch langfristig Mitgliedstaat der EU zu bleiben.
Seit den 1990er-Jahren befindet sich die EU in einer lang andauernden Phase der Stagnation. Höhepunkten wie dem Vertrag von Lissabon oder der EU-Osterweiterung stehen immer wieder Krisen gegenüber, denen sich die Union stellen muss. Diese Krisen finden zumeist simultan statt, was die Umsetzung konstruktiver Lösungsideen erschwert: So muss sich die EU zurzeit mit der Migrationskrise, der ungelösten Finanzkrise, dem Austritt Großbritanniens aus der EU, dem Rechtsruck in den politischen Systemen zahlreicher Mitgliedstaaten, der angespannten Lage in Russland und der Türkei sowie der geopolitischen Unberechenbarkeit durch die amerikanische Präsidentschaftswahl beschäftigen.
Die Theorie des Postfunktionalismus baut auf diesen Entwicklungen auf: Er nimmt an, dass “die anfängliche Integration zu negativen Reaktionen auf der nationalen Ebene führt, die den weiteren Integrationsprozess einschränken”[2]. Hierbei wird von nationalen Regierungen, nationalen Wählern und Parteien als zentralen Interessengruppen ausgegangen, die mehrheitlich das Ziel der Wohlfahrt und der Selbstbestimmung haben[3]. Die Akteure befinden sich in einem Kontext von nationalen Institutionen und intergouvernementaler Verhandlungsmacht[4]. Wenngleich der Postfunktionalismus von einem rein nationalen Kontext ausgeht, wird dieser hier unter Berücksichtigung der ungarischen Zugehörigkeit zur EU von der nationalen auf die europäische Ebene ausgedehnt.
Im Falle Ungarns bildet die nationalkonservative Fidesz-Partei zusammen mit der christdemokratischen KDNP die Regierung[5]. Das ungarische Volk ist in seiner Haltung zur Regierung gespalten, wobei vor allem die jüngeren Menschen liberal denken. Neben der Regierung und dem aus 199 Abgeordneten bestehenden Parlament befinden sich vor allem in der Hauptstadt Budapest Vertretungen zahlreicher Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs). Diese werden von staatlicher Seite stärker reglementiert, als dies in anderen europäischen Ländern der Standard ist. Die intergouvernementale Verhandlungsmacht Ungarns ist nicht größer als die anderer mittelosteuropäischer Staaten: Wenngleich sich Ungarn nach außen hin zunehmend von der EU lossagt – man denke an das ungültige Referendum[6] oder das Entfernen der EU-Flagge vom ungarischen Parlament[7] – ist man sowohl für die EU-Fördergelder als auch für die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt dankbar. Um ihre Verhandlungsmacht zu stärken, nutzt die Regierung in ihrer politischen Argumentation die Flüchtlingsthematik, während sich die politische und wirtschaftliche Verhandlungsmacht insbesondere auf die Visegrád-Staaten und auf China[8] erstreckt.
SWOT-Analyse
Ausgehend von der postfunktionalistischen Theorie wird nun zu klären sein: In welcher Situation befindet sich Ungarn und mit welchen Mitteln können die erwähnten Akteure die jeweiligen Ziele am besten erreichen? Welchen Bedrohungen sehen sie sich gegenüber?
Stärken
Die ungarische Regierung ist seit 2010 an der Macht. Premierminister Viktor Orbán und Präsident János Áder sind seit sechs bzw. vier Jahren im Amt und verfügen über eine lange politische Erfahrung. Die eigene Wählerschaft, aber auch weite Teile der politischen Opposition, stehen überwiegend hinter dem Staat Ungarn, wie bei den Feierlichkeiten rund um die Ungarische Revolution von 1959 zu erkennen war. Das Parteiensystem ist stabil, es sind keine großen Umbrüche zu erwarten, allgemein ist die Lage im ungarischen Parlament aktuell stabil.
Schwächen
Die Fidesz-Partei steht derzeit stark in der Kritik. Ihr werden demokratisch nicht legitimierte Handlungen vorgeworfen, so etwa die zeitweilige Schließung der oppositionellen Zeitung “Népszabadság”[9]. Auch das Referendum im Oktober war stark umstritten. Die starken staatlichen Eingriffe werden von weiten Teilen der Bevölkerung als nicht legitim empfunden, was die Spaltung der Wählerschaft aber auch der Parteien weiter vergrößert hat. Eine Schwäche ist die fehlende Macht der Opposition im Parteiensystem wie auch die schwache Position ungarischer Nicht-Regierungs-Organisationen im gesamtstaatlichen Kontext. Im europäischen Vergleich hinkt Ungarn hier deutlich hinterher.
Gelegenheiten
DIe EU-Mitgliedschaft ist vor allem für die ungarische Wirtschaft von Nutzen. Schließlich sind der Profit vom Binnenmarkt und von der Zollunion, aber auch die EU-Fördergelder von großem Nutzen. Hierin liegt nach wie vor großes Potential. Die EU-freundliche Einstellung der jüngeren Generationen hat durchaus politisches Gewicht. Die Arbeit nationaler Institutionen ist ebenfalls eine Gelegenheit für eine fortschreitende ungarische Integration. Organisationen wie TASZ und Transparency International, die derzeit in ihrer Arbeit stark behindert werden, haben das Potenzial, um die politischen Aktivitäten Ungarns pluralistischer zu gestalten[10].
Bedrohungen
Die allgemeine rechtspopulistische Tendenz auf weltpolitischer Ebene ist eine handfeste Bedrohung für die europafreundliche Ausrichtung Ungarns. Die Tatsache, dass häufig Grenzen überschritten werden, wie im Falle des Grenzzauns zu Serbien, sorgt für Spannungen. Die Ausrichtung der Regierung ist weiterhin zu beobachten, auch hinsichtlich demokratischer und pluralistischer Grundprinzipien. Zudem ist die Popularität der rechtsradikalen Partei Jobbik ein Faktor für eine bedrohliche Konstellation im ungarischen Parteiensystem[11]. Nicht zuletzt stellt Ungarns Ausrichtung hin zu China und zu den übrigen Visegrád-Staaten eine Konkurrenz für eine integrative EU-Politik dar.
Fazit
Trotz der partiellen geopolitischen Neuausrichtung Ungarns und trotz der aktuellen politischen Differenzen ist Ungarn Teil der EU. Vermutlich wird es langfristig auch so bleiben, denn die Vorteile und Chancen eines EU-Verbleibs überwiegen die Nachteile bei weitem. Die externen Effekte der Integration, für die der Postfunktionalismus steht, wurden am Beispiel Ungarns in den Kategorien “Schwächen” und “Bedrohungen” herausgearbeitet. Allein das friedliche Verhältnis zu den Nachbarstaaten ist jedoch ein entscheidender Faktor für ein Bestehen des Status Quo.
Literaturverzeichnis
Boris Kalnóky (30.05.2016): Ungarns Radikale fressen Kreide, in Welt Online. Zugriff via: https://www.welt.de/politik/ausland/article155820095/Ungarns-Radikale-fressen-Kreide.html. Letzter Zugriff: 12.12.2016.
derStandard.at (02.05.2016): Ungarn bekommt von China Milliarden. Zugriff via: http://derstandard.at/1334796711440/Entwicklungskredit-Ungarn-bekommt-von-China-Milliarden. Letzter Zugriff: 12.12.2016.
Generalkonsulat von Ungarn. München, Deutschland (11.06.2014): Das politische System Ungarns. Zugang via: http://www.mfa.gov.hu/kulkepviselet/Munchen/de/Magyarorszag_vilagban/Das+politische+System+Ungarns.htm. Letzter Zugriff: 12.12.2016.
Harriett Ferenczi (03.03.2016): Weniger Europafahnen in Budapest, in: ARD Wien. Zugang via: https://www.ard-wien.de/2016/03/03/ungarn-eu-fahne-streit/. Letzter Zugriff: 12.12.2016.
Keno Verseck (12.09.2014): Orbán putinisiert Ungarn, in: Spiegel Online. Zugriff via: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-orban-will-ngos-zum-schweigen-bringen-a-990770.html. Letzter Zugriff: 12.12.2016.
Mitteldeutscher Rundfunk (11.10.2016): Was wird aus Ungarns großer Oppositionszeitung? Zugriff via:
http://www.mdr.de/heute-im-osten/ungarische-oppositionszeitung-nepszabadsag-geschlossen-100.html. Letzter Zugriff: 12.12.2016.
Zeit Online (3.10.2016): EU-Politiker erleichtert über Scheitern der Volksabstimmung. Zugang via: http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-10/referendum-ungarn-fluechtlinge-eu-politiker-erleichterung. Letzter Zugriff: 12.12.2016.
Bildquelle: http://hasford.de
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[1] Schimmelfennig (2016).
[2] ebd.
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] Generalkonsulat von Ungarn. München, Deutschland (2016).
[6] Zeit Online (2016).
[7] ARD Wien (2016).
[8] derStandard.at (2012).
[9] Mitteldeutscher Rundfunk (2016).
[10] Verseck (2014).
[11] Kálnoky (2016).
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