Hinterher ist nichts mehr wie es war. Jeder ahnt, daß alles möglich ist. Aber manchmal dauert es Jahre, ehe man zu begreifen beginnt, was sich zugetragen hat…[1]
Am 26. Juni 1954 wurde in der Sowjetunion zum ersten Mal auf der Welt ein Kernkraftwerk in Betrieb genommen. Dank der für diese Zeit fortschrittlichen Forschungen auf dem Gebiet der Kernphysik gelang es den sowjetischen Wissenschaftlern, erstmals elektrische Energie in ein öffentliches Stromnetz zu liefern. Innerhalb kürzester Zeit bauten sie den ersten Reaktor und errichteten die erforderlichen Betriebe für die Herstellung von Ausrüstung und Materialien.[2] Unter systematischer Überwachung wurden Tests durchgeführt, die ihnen die Sicherheit gaben, dass die in Betrieb befindlichen Uran-Graphit-Druckröhrenreaktoren, auch RBMK-Reaktoren genannt, von denen heute noch insgesamt zehn Anlagen existieren, bei normalen Drücken und Temperaturen keine Gefahr darstellen. Das Platzen von Rohrleitungen mit großem Durchmesser und anderen Behältern schien ihnen unwahrscheinlich zu sein.[3] Der Super-GAU von Tschernobyl veranschaulicht allerdings, welche schwerwiegenden Konsequenzen aus einem Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften resultieren können. Ein unkontrollierter Leistungsanstieg führte am 26. April 1986 zu einer Explosion des Reaktors, bei der eine entsetzlich hohe Menge Radioaktivität in die Erdatmosphäre freigesetzt wurde. Zu den radioaktiven Stoffen, welche hauptsächlich die Umwelt kontaminierten, gehörten unter anderem Caesium, Jod sowie die Edelgase Xenon-133 und Krypton-85.[4] Nicht nur dieses Ereignis ist katastrophal, sondern auch die Informationspolitik der sowjetischen Regierung, welche die Einwohner der Stadt Prypjat und Umgebung trotz dieser existenziellen Bedrohung tagelang im Unklaren ließ.
Ein Maximum an Sicherheit bei einem Minimum an Information?[5]
In der Hoffnung, den Unfall so lange wie möglich verheimlichen zu können, wurden die lokalen Rundfunk- und Fernsehstationen kurz nach der Explosion nicht mobilisiert, um die Öffentlichkeit zu warnen. Weder ihr noch dem Hauptquartier des Zivilschutzes lieferten die zuständigen Mitarbeiter des AKW Tschernobyl Informationen, die notwendig gewesen wären, um sie vor den Folgen des Unfalls zu schützen. Aus diesem Grund leitete das Zivilschutzpersonal keine weiteren Maßnahmen ein und das Leben in den umliegenden Gebieten ging in üblicher Weise weiter…[6]
Offiziell wurde die Bevölkerung erst zwei Tage später, am 28. April abends in der Nachrichtensendung ‚Vremja‘, mit einem kurzen und wenig informativen Beitrag über das Unglück im Kernkraftwerk unterrichtet,[7] ungeachtet dessen, dass die Lage vor Ort einer Kampfsituation im Nuklearkrieg glich.[8] Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine radioaktive Wolke über die sowjetische Grenze hinweggezogen und die Katastrophe nahm internationale Dimensionen an, weshalb davon auszugehen ist, dass diese erste Bekanntgabe hauptsächlich durch den Druck von Schweden erfolgte, denn die ausländischen Rundfunksender berichteten schon längst von hochschnellenden Gammawerten in der Sowjetunion.[9] Daraufhin verhängte die Regierung eine Nachrichtensperre, welche erst am 6. Mai teilweise aufgehoben wurde. Nach 10 Tagen der Ungewissheit erschienen in den sowjetischen Zeitungen heroische Artikel über die Helden vor Ort, die gegen das Feuer kämpften. Bedauerlicherweise waren diese, wie sich im Nachhinein herausstellte, äußerst fehlerhaft und sämtliche Details wurden ausgelassen, wodurch viele Menschen das Unglück nicht als ernstzunehmende Bedrohung wahrnahmen. Es ließ sich nicht im Geringsten erahnen, wie hoch der Grad der Radioaktivität war und wie viele Menschen bereits an der Strahlenkrankheit litten oder sogar starben.
Ein halbes Glas Wodka auf zwei Stunden Tschernobyl
Am 14. Mai 1986 trat Michael Gorbatschow, amtierender Generalsekretär der KPdSU, vor die Öffentlichkeit, um sich zum ersten Mal persönlich zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zu äußern. In Angesicht der Tatsache, dass die Havarie bereits einen großen globalen ökologischen sowie materiellen Schaden angerichtet hatte, spricht Gorbatschow nun endlich in seiner TV-Ansprache von einem Problem, das von der Regierung auf sämtliche Aspekte hin untersucht wird. Zwei Menschen seien Gorbatschows Angaben nach verstorben und 299 Menschen mit Strahlenkrankheit ins Krankenhaus eingeliefert worden.[10] Quellen, wie geheime Dokumente aus dem Kreml, belegen allerdings, dass noch am 7. Mai 520 Personen mit der Strahlenkrankheit diagnostiziert wurden. Eine schnelle Genesung der Betroffenen war leider nicht der Grund für die sinkenden Zahlen, sondern die Anhebung der Richtwerte der für die Bevölkerung zulässigen Bestrahlung, welche die Staatsspitze am 8. Mai beschloss.[11]
Im Nachhinein wurde durch die Aussagen einiger Beteiligten, die am Unfallort tätig waren und während der Notfallmaßnahmen in kurzen Schichten arbeiteten, bestätigt, dass auch hier niemand etwas über radioaktive Strahlung und Strahlengefahren wusste.[12] Feuerwehrleute und andere Helfer vor Ort besaßen keine Geräte zur Messung der Strahlenbelastung sowie keine angemessene Kleidung, die sie vor den radioaktiven Partikeln geschützt hätte.[13] Dennoch ließ man ihnen keine Wahl und lockte sie mit Bargeldprämien oder der Anhebung ihrer Löhne bis um das Fünffache ihres normalen Verdienstes, obwohl das Strahlenniveau auf der Anlage an vielen Stellen so hoch war, dass die Arbeiter schon innerhalb weniger Sekunden die für den Menschen erträgliche Jahresdosis an radioaktiver Strahlung aufnahmen.[14] Trotz allem kletterten so genannte Liquidatoren auf die Dächer neben dem offen liegenden Reaktor, um diesen mit Schutt zu bedecken. Als Medizin gegen die radioaktive Verseuchung wurde den Helfern geraten, Wodka zu trinken.[15]
Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschen an der Beseitigung der Katastrophe mitwirkten und ihr letzten Endes zum Opfer fielen. Auch Informationen über die Arbeits-, Lebens- und Wohnbedingungen der Bevölkerung sollten von den sowjetischen Medienvertretern vorbereitet und der Presse, vor allem westlichen Kritikern, als „normal“ dargestellt und insbesondere „Übertreibungen“ entkräftet werden.[16] Zudem gab es keinerlei Instruktionen zum Schutz der Gesundheit, wie unzählige Beschreibungen über die Ahnungslosigkeit der Bevölkerung vor Ort belegten. 36 Stunden lang setzte man die ca. 50000 Einwohner von Prypjat und Janow unnötigerweise der Strahlung aus, ab dem 2. Mai begann die Evakuierung der Stadt Tschernobyl und ab dem 4. Mai wurden endlich alle anderen Menschen, die sich in einem Umkreis von 30 Kilometern befanden, in bewohnbare Gebiete umgesiedelt.[17]
Aber was ist nun die wichtigste Lehre von Tschernobyl? Diese entsetzliche nukleare Katastrophe zwingt uns zur Wahrheit. Wir müssen die Wahrheit sagen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Das vor allem.[18]
Obwohl bereits in der Nacht zum 26. April feststand, dass es sich bei der Explosion des 4. Reaktorblocks um eine Katastrophe mit verheerendem Ausmaß für die ganze Welt handelte, die nicht mit herkömmlichen politischen Maßnahmen bewerkstelligt werden konnte, wurde der Störfall lange Zeit nicht als lebensbedrohliches Ereignis publiziert. Die Verantwortlichen der Regierung haben ihre Pflicht gegenüber der gesamten Menschheit nicht wahrgenommen, eine ausführliche und korrekte Informationspolitik zu führen, die mediale Berichterstattung sinnvoll zu nutzen und alle Möglichkeiten für die Sicherheit der Bevölkerung in der Sowjetunion augenblicklich auszuschöpfen, um sie vor den Folgen der gesundheitsschädlichen Strahlung zu bewahren. Stattdessen wurden irreführende Tagesberichte verbreitet, in denen behauptet wurde, die Strahlenbelastung im Kraftwerk und in der Umgebung habe sich stabilisiert.[19] Der Unfall von Tschernobyl wäre ein schwerer Rückschlag für die bevorstehenden Pläne der Regierung gewesen, die nicht bereit war, ihre Vorhaben zu überdenken. Die Angst, das Vertrauen der Bevölkerung in die Kernenergie zu verlieren, war bei der Vertuschung des Super-GAUs die treibende Kraft, denn nicht die Sicherheit der Menschen, sondern die Erhaltung des Kernenergieprogramms hatte oberste Priorität.[20] Schlussendlich konnte die Geheimhaltungsstrategie nicht aufrechterhalten werden, da nach und nach Informationen aus dem Ausland durchsickerten, welche die Souveränität des Staates in Frage stellten.
Erst drei, vier Jahre nach der Katastrophe erkannte man im ganzen Land ihre wirklichen Ausmaße, ihre absolut niederschmetternde Wahrheit.[21]
Referenzen:
INSAG-1 Report. Summary Report on the Post-Accident Review Meeting on the Chernobyl Accident. IAEA Safety Series, Wien 1986.
Jaroshinska, A. (1994): Verschlußsache Tschernobyl (Die geheimen Dokumente aus dem Kreml), Berlin: BasisDruck Verlag.
Vgl. Kolb, M.: Tschernobyl das Leiden der Helfer – „Wir wollten Helden sein“, in: Süddeutsche Zeitung (2011), URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/atomkatastrophe-das-leiden-der-helfer-die-vergessenen-helden-von-tschernobyl-1.1073434
Medwedew, G. (1991): Verbrannte Seelen – Die Katastrophe von Tschernobyl, München Wien: Verlag Carl Hanser.
Medwedjew, Z. (1991): Das Vermächtnis von Tschernobyl, Münster: Daedalus Verlag Joachim Herbst.
Müller, M. (2001): Zwischen Zäsur und Zensur – Das Sowjetische Fernsehen unter Gorbatschow, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Petrosjanz, A.M. (1973): Das Atom – Forschung und Nutzung, Berlin: Akademie Verlag.
Pravda, 15. Mai 1986.
Shcherback Y., „Chernobyl“, Yunost‘, 6 (1987), S.54.
Sofsky, W. (2005): Das Prinzip Sicherheit, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
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[1] Sofsky, W.: Das Prinzip Sicherheit 2005, Frankfurt am Main, S.15.
[2] Vgl. Petrosjanz, A.M.: Das Atom – Forschung und Nutzung 1973, Berlin, S.19.
[3] Vgl. ebd. S.107.
[4] Vgl. INSAG-1 Report 1986, Wien, S.34.
[5] Knabe, B.: „Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl“, in: Gorbatschows Revolution von oben. Hrsg. von Mommsen, Margarete; Schröder, Hans-Henning, Frankfurt a.M./Berlin 1987, S.251.
[6] Vgl. Medwedjew, Z.: Das Vermächtnis von Tschernobyl 1991, Münster, S.71 ff.
[7] Vgl. Müller, M.: Zwischen Zäsur und Zensur 2001, Wiesbaden, S.69 f.
[8] Vgl. Medwedew, G.: Verbrannte Seelen – Die Katastrophe von Tschernobyl 1991, München, S.206.
[9] Vgl. ebd. S.73.
[10] Vgl. Pravda, 15. Mai 1986.
[11] Vgl. Jaroshinskaja, A.: Verschlußsache Tschernobyl 1994, Berlin, S.149.
[12] Vgl. Shcherback, Y.: „Chernobyl“ 1987, in: Yunost‘, Bd.6 1987, S.54.
[13] Vgl. Medwedjew, Z., S.60f.
[14] Vgl. ebd., S.84.
[15] Vgl. Kolb, M.: Tschernobyl das Leiden der Helfer – „Wir wollten Helden sein“, in: Süddeutsche Zeitung (2011).
[16] Vgl. Müller, M., S.72.
[17] Vgl. Medwedjew, Z., S.164 f.
[18] Medwedew, G., S.279.
[19] Vgl. Medwedjew Z., S.74.
[20] Vgl. ebd., S.57ff.
[21] Jaroshinskaja, A., S.14.
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