Europa liegt geographisch am Ende der großen Graslandzone Eurasiens, die sich von Nordchina über Zentralasien und Russland bis in die heutige Ukraine und das Karpatenbecken zieht. Aus dieser Zone drangen immer wieder nomadische Reiterverbände nach Mittelost- und Südosteuropa, aber auch Westeuropa vor und prägten die Geschichte Europas mit. Die Bedrohung aus der Steppe war für das Römische Imperium und spätere Reiche eine ständige Herausforderung. In diesem Text wird mit den Hunnen und Awaren die Rolle zweier Reitervölker in der Völkerwanderungszeit behandelt.
Das Phänomen der Reitervölker
Bevor im unteren Teil des Textes ein kurzer Einblick in die Geschichte der Hunnen und Awaren gegeben wird, soll dieser Abschnitt einige grundlegende Fragen zu den beiden Reitervölkern beleuchten.
Zuerst ist die Frage der Herkunft zu beantworten, die wie bei den meisten Völkern der Völkerwanderungszeit nicht eindeutig zu klären ist. Greifbar sind Hunnen und Awaren in Europa erst mit ihrem Auftauchen im nördlichen Schwarzmeerraum und der Erwähnung in schriftlichen Quellen im späten 4. Jahrhundert bzw. Mitte des 6. Jahrhunderts. Direkte Verbindungen zu zentralasiatischen Reitervölkern und Kontinuitätslinien zu den Jahrhunderten davor sind bis auf Gemeinsamkeiten in der Sachkultur (Bestattung, Keramik) und der nomadischen Lebensweise schwer herzustellen. Dennoch sind Hunnen und Awaren klar im Kontext der zentralasiatischen Reitervölker zu sehen und es ist anzunehmen, dass ihre Verbände aus eben diesen Teilen der eurasischen Graslandzone stammen (1).
Der in der Forschung und hier verwendete Begriff der „Völker“ muss so verstanden werden, dass es sich dabei um polyethnische Völkerverbände handelt, die unter einem Namen gemeinsam auftreten. „Hunne“ und „Aware“ ist demnach nicht als ethnische Bezeichnung zu verstehen, sondern als Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Man kann in diesem Zusammenhang auch von „Prestigenamen“ sprechen, die sowohl von zeitgenössischen römischen und byzantinischen Quellen als auch von einzelnen Reiterverbänden aufgrund ihrer Bedeutung und Zuschreibung benutzt werden (2).
Es gab aber auch nichtnomadische Verbände, die in Koalition mit den Hunnen und Awaren standen, wie beispielsweise die (Ost)Goten bei den Hunnen oder slawische Gruppen bei den Awaren. Diese wurden zwar militärisch und politisch organisiert und identifizierten sich mit dem Prestige des jeweiligen übergeordneten Partners, behielten aber ihre eigene Identität. Hier können auch wechselseitige Akkulturationsprozesse beobachtet werden (3).
Die Fähigkeit der Hunnen und Awaren, andere Verbände an sich zu binden, stützte sich auf drei ineinandergreifende Gründe: militärische Überlegenheit, politische Organisation und erfolgreiche Raubzüge mit Aussicht auf reiche Beute. Die reiternomadische Lebensweise ermöglichte eine hohe Mobilität. Dem als Kavallerie- und Fernwaffe äußerst effektiven Reflex-Bogen, hatten die Heere der Römer und Germanen außerdem lange nichts entgegenzusetzen. Ebenso wenig der Militärtaktik zu Pferd, die unvorhersehbare Manöver ermöglichte; auch der von den Awaren eingeführte Steigbügel brachte später einen weiteren Vorteil. Mit wachsender militärischer Stärke kam der Bedarf nach immer mehr Beute, um die auf Prestigegüter ausgerichtete Ökonomie zu erhalten. Wie sich unten zeigen wird, förderte das eine Überdehnung und begünstigte letztendlich die Auflösung der Steppenreiche der Hunnen und Awaren (4).
Ereignisgeschichte
Um das Jahr 370 drangen hunnische Reiterverbände in den nördlichen Schwarzmeerraum vor und zerstörten bis zum Jahr 375 die dortigen gotischen Reiche. Dies hatte zur Folge, dass große Teile der Goten auf römisches Reichsgebiet am Balkan flohen, kleinere Teile schlossen sich den Hunnen an. Zu diesem Zeitpunkt ist noch keine Herrschaftsbildung der Hunnen zu erkennen, auch einen Anführer oder König, wie es Attila später werden sollte, gab es nicht (5).
Für die folgenden Jahrzehnte sind ausgehend vom nördlichen Schwarzmeerraum, wo sie für ihre Lebensweise ideale Bedingungen vorfanden, immer wieder Raubzüge auf römisches Gebiet belegt. Außerdem dehnten die Hunnen ihren Einflussbereich bis an die Donau und in das Karpatenbecken aus, wo sie sich dauerhaft behaupten konnten (6).
Für die Jahre 406 bis 408 ist mit Uldin erstmals ein hunnischer Herrscher belegt. Er vermochte es, große Teile der Hunnen und anderer untergebener Gruppen zu vereinen. Die Hunnen wirkten zeitweise als römische Verbündete und Söldner, oder aber als Aggressoren und Plünderer. Einer seiner Nachfolger, Ruga, schaffte es, mit seinen Reiterverbänden den Druck auf das (ost)römische Reich so zu erhöhen, dass er Tributzahlungen erpressen konnte. Durch die Verteilung von Beute und dem erlangten Prestige konnte Ruga in den 420er und 430er Jahren seine Macht stetig vergrößern, die er an seine Neffen Bleda und Attila weitergab (7).
Attila herrschte ab 444/445 allein und führte die hunnische Reichsbildung zu ihrem Höhepunkt. 447 unternahm er einen groß angelegten Feldzug, bei dem weite Teile der Balkanhalbinsel verwüstet wurden. Der jährliche Tribut aus Konstantinopel erreichte darauf hin seinen Höhepunkt. Schon einige Jahre später konnte der Bedarf an Beute aber nicht mehr ausreichend befriedigt werden, sodass Attila auf weitere Feldzüge aufbrach: 451 nach Gallien (verlustreiche Schlacht auf den Katalaunischen Feldern) und 452 und nach Italien. Eine territoriale Expansion nach Westen blieb aber aus und im Winter 453/54 verstarb Attila plötzlich. Sein Tod bedeutete gleichsam das Auseinanderbrechen und Ende des hunnischen Steppenreichs (8).
Über ein Jahrhundert später kam 558 die erste awarische Gesandtschaft an den römisch-byzantinischen Kaiserhof in Konstantinopel. In den nächsten zwei Jahrzehnten festigten sie ihre Stellung in der Steppe nördlich der unteren Donau und griffen in den Konflikt zwischen Gepiden und Langobarden im Karpatenbecken ein, das sie schließlich für sich einnahmen. Für diese Zeitpunkt ist mit Baian erst- und letztmals ein Awaren-Herrscher namentlich bekannt, seine Nachfolger scheinen in den Quellen nur mehr unter dem Herrscher-Titel „Khagan“ auf (9).
Ab Mitte der 570er Jahre standen die Awaren in einem ähnlichen Tributs-Verhältnis mit Konstantinopel wie vormals die Hunnen. Typisch ist hier ebenfalls der Zusammenhang zwischen Plünderungszügen auf römisches Territorium und den danach erfolgten Erhöhungen der jährlichen Tribute. Gemeinsame Feld- und Plünderungszüge mit slawischen Gruppen bedeuteten das Ende des Städtewesens und den Zusammenbruch römischer Herrschaft am Balkan. Höhepunkt und gleichzeitiges Ende der awarischen Expansion war die gescheiterte Belagerung Konstantinopels 626 (10).
Die awarischen Vorstöße ermöglichten es den Slawen, in Südosteuropa Fuß zu fassen. Die Awaren selbst blieben nördlich der Donau und zogen sich immer wieder in das Karpatenbecken zurück, wo sie sich nach ihrem letzten Rückzug 626 bis zur Niederlage gegen die Franken Ende des 8. Jahrhunderts halten konnten (11).
Danach sollte wieder gut ein Jahrhundert vergehen, bis mit den Ungarn wieder ein Reitervolk in die Ebenen Südosteuropas vordrang. Dies und die weitere Ausbreitung der Slawen sind Gegenstand zweier bereits hier erschienener Texte dieser kleinen Reihe zur Völkerwanderungszeit in Mittelost- und Südosteuropa.
Referenzen:
1 Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.. München 52020, S. 160; Walter Pohl: Barbarische Herrschaftsbildungen in Spätantike und frühbyzantinischer Zeit, in: Fritz Mitthof/Peter Schreiner/Oliver Jens Schmitt, Handbuch zur Geschichte Südosteuropas. Band 1: Herrschaft und Politik in Südosteuropa von der römischen Antike bis 1300. Berlin/Boston 2019, S. 568 f.; Timo Stickler: Die Hunnen. München 2007, S. 10–12
2 Walter Pohl: Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567 – 822 n. Chr.. München 32015, S. 215–221; Timo Stickler: Die Hunnen, S. 24–26
3 Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung, S. 163 f.; Walter Pohl: Die Awaren, S. 235 f.
4 Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung, S. 163–166
5 Timo Stickler: Die Hunnen, S. 47–51
6 Ebd., S. 51–53
7 Ebd., S. 55–69
8 Walter Pohl: Barbarische Herrschaftsbildungen, S. 571–573
9 Ebd., S. 581 f.
10 Ebd., S. 582–584
11 Ebd., S. 585 f.