Als im Sommer der russische Oppositionelle Alexei Nawalny nach seiner Vergiftung durch den russischen Geheimdienst behandelt wurde, wurden auch in Deutschland Rufe nach der Sanktionierung Russlands und einer härteren Außenpolitik Deutschlands gegenüber Russland laut. Inzwischen sorgt das Projekt Nord Stream 2 aber weiter für Ärger Deutschlands mit der neuen amerikanischen Regierung, EU-Partnern Deutschlands und der Ukraine. Dabei handelt es sich um den Bau einer Gaspipeline von Russland nach Deutschland, die momentan in der Nordsee verlegt wird.
In Deutschland dreht sich die Debatte zu wesentlichen Teilen darum, ob es sinnvoll sei, überhaupt noch neue Gaspipelines zu bauen, obwohl Deutschland bereits im Ausstiegsprozess aus der fossilen Energie steckt und auch die EU sich das Ziel gesetzt hat, bis 2050 CO2-neutral zu werden. Dagegen dreht sich die Debatte in den mittel- und osteuropäischen Staaten, insbesondere auch in den Staaten, die NATO oder EU-Mitglieder sind, vor allem um sicherheitspolitische Implikationen des deutsch-russischen Projekts.

Ein weiteres Beharren auf der Vollendung des Projektes würde das Vertrauen vieler mittelosteuropäischer Staaten in die Verlässlichkeit Deutschlands als außenpolitischen Partner nachhaltig beschädigen. Dazu ist wichtig, zu verstehen und anzuerkennen, dass Russland von vielen mittel- und osteuropäischen Staaten als entschiedener Gegner ihrer Orientierung zu der EU und zum Westen gesehen wird. Spätestens seit der russischen Invasion auf der Krim-Halbinsel wird das auch zunehmend in den USA und Westeuropa so gesehen (auch, wenn die Lage in den USA, wo sich ausnahmsweise sogar Demokraten und Republikaner einig sind, noch einmal deutlich eindeutiger ist). Der polnische und der ukrainische Außenminister haben erst im Februar einen gemeinsamen Gastbeitrag beschrieben, in dem sie die USA auffordern, dafür zu sorgen, dass Nord-Stream 2 unvollendet bleibt. In dem Beitrag bezeichnen sie die Abhängigkeit von Russlands Nachbarn von Erdgas als eine der „stärksten Waffen“ Russlands, um die Annäherung an den Westen dieser Nachbarn zu stören. Damit muss nicht nur die Abhängigkeit Westeuropas vom russischen Erdgas gemeint sein, es kann sich auch ebenso darauf beziehen, dass zum Beispiel die Ukraine wirtschaftlich stark von Transitgebühren von Pipelines, die über ihr Territorium fließen abhängig ist.

Zwar dürfte es Teil der polnischen Motivation sein, lieber selbst mehr am Erdgas zu verdienen, es sollte aber nicht vergessen werden, dass Polen seit dem Beginn der Ukrainekrise einen Zuwachs von Geflüchteten aus den dortigen Kriegsgebieten verzeichnet. Nicht nur Polen und die Ukraine, sondern auch der überwiegende Teil der großen Parteien in ganz Europa halten die Pipeline für problematisch. Folgerichtig verabschiedete das Europäische Parlament im Januar eine Entschließung, die härtere Sanktionen gegen Russland aufgrund des Falls Nawalny und den Stopp von Nord-Stream 2 fordert. Die Entschließung wurde mit einer überwältigenden Mehrheit von 581 Ja-Stimmen zu nur 50 Nein-Stimmen und 44 Enthaltungen angenommen. Die deutsche Bundesregierung stellt sich mit ihrem Beharren auf dem Projekt also nicht nur gegen einzelne Staaten, sondern gegen die überwältigende Mehrheit ihrer politischen Verbündeten. Dies ist problematisch, da Deutschland so in Zukunft kaum in der Lage sein wird, Russland im Falle weiterer Aggressionen gegen Nachbarn glaubwürdig mit Sanktionen zu drohen.

Daraus folgt, dass es am besten wäre, das Projekt, dessen ökonomischer Nutzen für Deutschland zudem mindestens fragwürdig sein dürfte, aufgrund der hohen politischen Kosten auf Eis zu legen. Das wäre auch in Anbetracht der unangemessenen Rechtfertigungsmanöver, in die sich deutsche Politiker im Zusammenhang mit der Pipeline häufig verstricken, die beste Lösung. Zuletzt deutete der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zumindest an, das Projekt mit dem deutschen Überfall über die Sowjetunion zu rechtfertigen. Dies führte zu berechtigten Protesten aus der Ukraine, da die meisten der Kriegstoten der Sowjetunion aus dem Zweiten Weltkrieg wohl als Ukrainer angesehen werden müssen. Immerhin dürften durch den zunehmenden Druck, den die neue US-Regierung auf Deutschland ausübt, die Chancen steigen, dass das Projekt nicht fertiggestellt wird, auch wenn das Land Mecklenburg-Vorpommern bereits eine Stiftung gründete, um mögliche amerikanische Sanktionen zu umgehen.

Quellen:

Faktensammlung auf ZeitOnline: https://www.zeit.de/thema/nord-stream-2

Entschließung des EU-Parlaments: https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20210119IPR95904/parlament-fordert-deutlich-scharfere-eu-sanktionen-gegen-russland

Zur Umwelt-Stiftung und dem Umwelt-Aspekt in der deutschen Debatte: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-01/nord-stream-2-gaspipeline-ostsee-umwelt-stiftung-mecklenburg-vorpommern

Gastbeitrag des polnischen und ukrainischen Außenministers auf Politico.eu: https://www.politico.eu/article/nord-stream-2-pipeline-has-damaged-the-west-enough-time-to-put-an-end-to-it/

Zur teilweise fragwürdigen Rentabilität von Nord-Stream2: https://www.politico.eu/article/why-germany-cant-say-no-to-nord-stream/

Zur Migration von Ukrainern nach Polen: https://www.deutschlandfunk.de/ukrainer-in-polen-fluechtlinge-und-gluecksritter.724.de.html?dram:article_id=423084

Zum polnischen Pipeline-Projekt: https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Pipeline-Projekte-Wie-sich-nationale-Interessen-kreuzen,sassnitz166.html

Interview Steinmeiers und ukrainische Kritik an seinen Äußerungen:

https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Interviews/2021/210206-Interview-Rheinische-Post.html und https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-02/nord-stream-2-bundespraesident-frank-walter-steinmeier-ukraine

Zur Stiftung in Mecklenburg-Vorpommern: https://www.nzz.ch/wirtschaft/nord-stream-2-wie-ein-bundesland-die-usa-austricksen-will-ld.1595287

Bildquelle: Nordstream 2 AG