Über Jaroslav Rudiš’s „Vom Ende es Punks in Helsinki“ und verdrängte, europäische Geschichte(n).
Wo sich in der Gegenwart EU-finanzierte Radwege durch malerische Natur schlängeln und Deutschland mit Tschechien unbemerkt verbinden, versuchen 1987 der DDR-Punker Ole und die ČSSR-Punkerin Nancy die Flucht ‚in den Westen‘. Während Nancy vor Oles Augen von Wachpatrouillen erschossen wird, erwarten Ole Repression und Ausgrenzung – und 20 Jahre nach dem Mauerfall das Dahinvegetieren im geschichtsvergessenen Wohlfühlkapitalismus einer ostdeutschen Großstadt.
„Vom Ende des Punks in Helsinki“ ist ein Roman des Schrifststellers, Drehbuchautors und Dramatikers Jaruslav Rudiš und erschien 2014 auf Deutsch bei Luchterhand. Der Protagonist Ole erlebte seine Jugend in der DDR als Punk-Rebell, Frauenheld und Mitglied einer erfolgreichen Punkband. Das Jetzt des Wohlfühlkapitalismus hingegen, wo die Vergangenheit unter sanierten Neubauten vergraben wird, erlebt er sowohl als verstaubt und trist, als auch hektisch und schnell und entscheidet sich fürs einsame Außenseitertum. Von den lauten Revoluzzerklängen der Punkmusik ist nur der stille Widerstand gegen Bio-Helikoptermütter und Hipster in seiner verrauchten Kneipe ‚Helsinki‘ geblieben, wo er zu Soljanka und Wodka die Vergangenheit zu konservieren scheint.
Doch die Bagger auf den Baustellen der ostdeutschen Großstadt lassen im ‚Helsinki‘ die Gläser wackeln und scheinen sich durch seine schmerzhaften Erinnerungen zu wühlen. Als das ‚Helsinki‘ geschlossen wird, folgt Ole den Schatten der Vergangenheit zu dem Ort, wo ihn auch heute noch die Angst einholt, dass „hinter jedem Baum Soldaten mit geladenem Maschinengewehr“ wartet. Dort finden er, und die Leser*innen, in Nancys Tagebuch ein Zeugnis über lebendigen Punk und rebellische Jugend in der zeitgleichen Dystopie der Perspektivlosigkeit und Dynamik der Umbruchszeit.
Denjenigen, die in Literatur und Film den Kalten Krieg bisher hauptsächlich durch die narrative Linse der repressiven DDR in Isolation von der freiheitlichen BRD sahen, ermöglicht Rudiš`s deutsch-tschechische Erzählperspektive einen neuen Verständnishorizont. Sein Roman veranschaulicht die Erfahrung des Aufwachsens im Sozialismus und der Punk-Subkultur als europäische Erfahrung, die verbindet. Ob russische Okkupation, Erkrankungen nach Tschernobyl oder das Schicksal der Sudetendeutschen – diese Erfahrungen wurden, wenn auch vielleicht nicht bewusst gemeinsam erfahren, dennoch von Europäer*innen als Realität geteilt.
Sie gipfeln als europäisches und rebellisch-freiheitliches Moment im Mírový Konzert in Plzeň/Pilsen, einem Konzert das die Olof-Palmen-Friedensmärsche unterstützte, welche sich durch die BRD, DDR und ČSSR zogen. Es war die erste und einzige Möglichkeit, (west)deutsche Punkbands wie die „Die Toten Hosen“[1] live zu sehen und so reisten zehntausende Menschen, insbesondere aus der DDR, nach Pilsen. Das Konzert bildet auch den Höhepunkt des Romans, denn dort treffen sich Ole und Nancy im Roman, woraufhin sie nach einer gemeinsamen Nacht in einer Hütte im Wald spontan die Flucht versuchen.
Die Frage, ob Ole die Freiheit, die er weder durch seinen Fluchtversuch noch durch den Mauerfall gefunden hat, jemals findet, bleibt offen. Doch eine Befreiung scheint die Aufarbeitung seiner Geschichte, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu sein. Eine Auseinandersetzung jener Geschichten, ehemals versteckt, verboten und verschwiegen, denen in seiner Stadt der schonungslosen, rasenden Modernisierung und Gentrifizierung kein Raum mehr bleibt.
Der Roman erlaubt einen Blick hinter das Narrativ, dass Europa mit der schrittweisen Bildung der Europäischen Union im Westen begann und sich erst durch das Öffnen von Grenzen für Waren und Arbeitskräfte europäische Erfahrungen und Identitäten bildeten. Ostdeutsche Lebensläufe fanden nicht nur in Isolation von westdeutschen statt, sondern auch in paralleler Verbindung zu osteuropäischen. Das hegemoniale Geschichtsnarrativ beschreibt einen Eintrittspunkt des europäischen ‚Ostens‘ zum europäischen ‚Westen‘ von dem an gesamteuropäische Geschichte geschrieben wird. Was zuvor in ‚Dunkeleuropa‘ geschah, scheint oft heute noch aus der fremden Beobachterperspektive hinter der Mauer erzählt zu werden. Ohne die repressive Atmosphäre, Perspektivlosigkeit und tödlichen Konsequenzen der Unrechtsregime zu romantisieren, erzählt Rudiš’s Roman von der vielfältigen und komplexen Realität die einen facettenreichen Teil Europas prägten. Sie sollten als erlebte europäische Geschichte(n) noch viel mehr gesehen, erzählt und erinnert (und als nicht-westliche Punkbands gehört) werden.
Zum Autor:
Jaroslav Rudiš 1972 in Turnov geboren, studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin. 2014 erhielt er den Usedomer Literaturpreis und 2018 den Preis der Literaturhäuser. Seine Romane „Grand Hotel“ und „Nationalstraße“ sowie seine Graphic Novel „Alois Nebel“ wurden verfilmt. „Winterbergs letzte Reise“, sein erster auf Deutsch geschriebener Roman, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Sein neustes Theaterstück mit dem Titel „Anschluss“ wurde im Juni 2021 in Dresden uraufgeführt.
Quellen:
Rudiš, Jaroslav. „Vom Ende des Punks in Helsinki“. Übersetzung: Eva Profousová. Luchterhand, 2014. (Original: „Konec punku v Helsinkách“, bei Labyrint, 2010.
Autorenseite bei Penguin Random House: https://www.penguinrandomhouse.de/Autor/Jaroslav-Rudis/p203746.rhd (30.07.2021)
Die Toten Hosen Tourarchiv, „15.09.1987, Pilsen, Olof Palme Friedensfestival“. https://www.dth-dta.de/index.php?option=com_dthdta&view=concert&concertid=199&Itemid=147&lang=de (30.07.2021)
Hayer, Björn. „Krawall war gestern“. Zeit Online, 21.06.2014. https://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-06/jaroslav-rudis-vom-ende-des-punk (30.07.2021)
König, Annette. „‚Vom Ende des Punks in Helsinki‘ von Jaroslav Rudis“, Gespräch mit Jaroslav Rudiš. SRF, 02.11.2014. https://www.srf.ch/audio/buchzeichen/vom-ende-des-punks-in-helsinki-von-jaroslav-rudis?partId=10451353 (30.07.2021)
Martin, Marko. „Von Rauchern und Punks“. Neue Zürcher Zeitung 25.11.2014. https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/von-rauchern-und-punks-1.18431194?reduced=true (30.07.2021)
Petraschewsky, Stefan. „Dresden: Neues Stück von Jaroslav Rudiš über neurechte Männer“. MDR Kultur, 27.06.2021. https://www.mdr.de/kultur/theater/staatsschauspiel-dresden-jaroslav-rudis-anschluss-100.html
Bildquellen:
Buchcover: https://www.penguinrandomhouse.de/content/edition/cover/350px/9783641131364.jpg
Konzertposter: https://www.dth-dta.de/images/material/1987_ein-bunter-abend-fuer-eine-schwarze-republik/870915_pilsen/870915_pilsen_poster_02.jpg
[1] Wie im Roman geschildert, wurde das Konzert der Toten Hosen nach kurzer Zeit mit einem massiven Polizeieinsatz gewaltvoll beendet und die Band wurde zur Ausreise über Österreich genötigt. Videos der Toten Hosen im Amphitheater Lochotín: https://www.youtube.com/watch?v=gzcsaWCrvpg, https://www.youtube.com/watch?v=qtJLGLr4tNI-
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