Im Oktober 2021 wurde der Grundstein für den Skavica-Staudamm und das Wasserkraftwerk Skavica gelegt. Der Skavica-Staudamm wird die Drin im Norden Albaniens zu dem größten Stausee in Europa aufstauen. Er soll zusätzliche 470 Gigawatt Energie pro Jahr produzieren, 70,000 Haushalte versorgen und 100,000 Menschen vor Überflutungen schützen. Dies sind die Vorteile des Wasserkraftwerks, die die Western Balkan Investment Framework (WBIF) der EU aufzählt, die maßgeblich an dessen Finanzierung beteiligt sind.
Wasserkraft wurde schon in vorindustriellen Zeiten eingesetzt, um Mühlen, Säge- und Hammerwerke zu betreiben. Dafür wird durch die kinetische Energie fließenden Wassers Turbinen betrieben, die durch die Rotation Werkzeuge bewegen oder eben elektrische Energie produzieren. Diese bewährte Technik hat dazu geführt, dass heutzutage Wasserkraft eins der am meist genutzten erneuerbaren Energien weltweit ist. In Zahlen ist dieser Trend in der EU verfolgbar. Von den 37.5 %, die aus erneuerbaren Quellen gewonnen werden, liefert die Wasserkraft den höchsten Anteil zur Stromgewinnung mit 36 %.
Den Siegeszug der Wasserkraft erklären Befürworter*innen der Wasserkraft mit dem hohen Wirkungsgrad von Wasserkraftwerken: Mit ausreichendem Wasserdurchfluss, einer hohen Wasserfallhöhe und effizienten Turbinen können 90 % der Wasserenergie auch tatsächlich in Strom umgewandelt. Windkraftanlagen dagegen haben nur einen Wirkungsgrad von 45 %, und Solarenergie sogar nur durchschnittlich 25 %.
Solche Zahlen lassen schnell den Eindruck erwecken, dass unsere Klimakrise mit Wasserkraftwerken „ziemlich einfach“ gelöst werden könne. So einfach ist es natürlich nicht – tatsächlich wird der Nutzen von Wasserkraft mehr und mehr in Zweifel gezogen. Einerseits ist Wasserkraft natürlich abhängig von einem stetigen Wasserfluss. Aufgrund des globalen Klimawandels und der Erderwärmung wird die Wassermenge und der Wasserfluss jedoch immer unzuverlässiger und somit auch die versprochene Energiegewinnung. Das größere Problem momentan jedoch, dass viele Organisationen und Aktivist*innen gegen Wasserkraftwerke ins Feld führen, ist der Eingriff in und die Zerstörung von sensiblen Ökosystemen durch diese Anlagen. Durch den Bau von Staudämmen und Wasserkraftwerken werden nicht nur zahlreiche Dörfer überflutet und die Menschen vor Ort gezwungen, ihre Heimat und kulturellen Errungenschaften zurückzulassen. Auch führen die Anlagen dazu, dass sich Flussläufe verändern, Flüsse ausdörren und bedrohte Arten, die in diesen Ökosystemen Zuhause sind, ausgerottet werden
Auch aufgrund von Wasserkraftwerken und Staudämmen befinden sich gerade einmal 40 % der EU Süßwasser-Ökosysteme in einem „gesunden“ Zustand. Tatsächlich ist die Situation der Süßwasser-Bestände so prekär, dass die EU sich veranlasst sah, die Water Framework Directive (WFD) zu verabschieden. Mit dieser Direktive sollen alle Süßwasser-Läufe bis 2027 auf das Level der „good health“ gebracht werden, vor allem durch den Abbau von Staudämmen und Wasserkraftwerken.
Mit einem Blick auf die EU-Nachbarstaaten und zukünftige Beitrittskandidaten auf dem westlichen Balkan eröffnet sich ein konträres Bild: Im Gegensatz zu der schlechten Qualität der Gewässer in der EU befindet sich auf dem Westlichen Balkan das „Blaue Herz“ Europas (Bild 1). Dieses „Blaue Herz“ ist ein Geflecht aus unberührten, natürlichen Flüssen, die viele bedrohte Arten beherbergen. Gerade im Vergleich mit der schlechten Verfassung der Gewässer in der EU sind die Zustände der Flüsse bemerkenswert.
Doch genau diese Einzigartigkeit in Europa wird nun massiv bedroht – durch den Ausbau von Wasserkraft. Auf dem gesamten Westlichen Balkan sind momentan über 2700 Wasserkraftwerke geplant, die hunderte von natürlichen Flussläufen zerstören werden – Aktivist*innen sprechen von der Zerstörung von über 5000 km unberührten Flusslandschaften.
Bild 1: In Blau sind alle Flussläufe, die in ihrem ursprünglichen Bett fließen, markiert. | Quelle: Balkanrivers.net/de/kampagne
Bild 2: Schwarz: Existente Wasserkraftwerke; Gelb: Wasserkraftwerke unter Konstruktion; Rot: Geplante Wasserkraftwerke. | Quelle: Balkanrivers.net/de/kampagne
Die meisten Wasserkraftwerke fallen in die Kategorie der ‚kleinen‘ Wasserkraftwerke, die unter 10 Megawatt produzieren können. Diese Kraftwerke werden massiv von den Regierungen auf dem Westlichen Balkan unterstützt, so wurden beispielsweise in 2018 über 70 % aller Gelder für den Ausbau von erneuerbaren Energien in kleine Wasserkraftwerke investiert – obwohl diese nur 3.6 % des gesamten Stromverbrauches decken. Die kleinen Wasserkraftwerke werden vor allem über Einspeisevergütungen finanziert, die über eine staatlich festgelegte Mindestpreisgarantie für Strom, den Ausbau von erneuerbaren Energien fördern sollen. Durch die Involvierung von staatlicher Seite hegen Investor*innen großes Interesse an Einspeisevergütungen, da die Rückzahlung der Darlehen als gewährleistet angenommen wird.
Während die EU sich aufgrund der Etablierung von erneuerbaren Energien schon weitestgehend von Einspeisevergütungen für Kleinanlagen verabschiedet hat, werden sie auf dem Balkan gerade für Wasserkraftwerke unlimitiert ausgegeben – ohne für Wind- oder Solarkraft ähnliche Anreize zu schaffen. Die geplanten Kraftwerke sind vor allem Laufwasserkraftwerke, die den Bau von Böschungen oder Flussumleitungen erfordern, um Strom generieren zu können. Durch diese Eingriffe in das Flussbett werden Tiefen- und Oberflächenwasser getrennt, was auf lange Sicht die Fließgeschwindigkeit und die umliegenden Ökosysteme negativ beeinflusst.
Gerade in dem an der Adria gelegenen Albanien boomt der Ausbau von Wasserkraftanlagen. Laut Albaniens Präsidenten, Edi Rama, bezieht sein Land 100% seines Energiebedarfs aus Wasserkraft, und plant daher den Bau von weiteren 740 Staudämmen und Kraftwerken. Dass dem Land jedoch die Speicherkapazitäten fehlen, um diese gewonnene Energie ganzjährig zu nutzen, und daher gezwungen ist, Strom zu einem höheren Preis zu importieren, erwähnte Rama auf dem COP26-Klimagipfel 2021 nicht. Auch dass die US-Baufirma Bechtel, die berüchtigt für ihre Bauprojekte auf dem Balkan ist, den Zuschlag für das größte geplante Kraftwerk Skavica ohne Ausschreibung bekommen hat, wird kaum von der offiziellen Seite kommentiert.
Gerade der Beginn der Konstruktion des Skavica Staudammes regte den Widerstand gegen Wasserkraftwerke auf dem Balkan stark an. Gegen den Bau vereinigen sich Betroffene der 12.000 Menschen, die einer Umsiedlung aufgrund des sich aufstauenden Sees entgegenblicken, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, die die ökologischen Schäden für Europa fürchten, und die albanische Diaspora in den Vereinigten Staaten von Amerika, deren Regierung den Bau des Werks maßgeblich unterstützt. Bisher hat dieses öffentliche Aufbegehren jedoch keine Wirkung gezeigt. Stattdessen werden immer mehr Wasserkraftanlagen auf dem Balkan geplant und gebaut – beispielsweise an der bekannten Drina in Bosnien-Herzegowina, am Raktiska Fluss in Serbien oder der Vjosa in Albanien, dem wirklich letzten unberührten Fluss Europas.
Es bleibt abzuwarten, welchen Einfluss die geplanten Wasserkraftwerke nicht nur auf die lokalen Bevölkerungen und die Umwelt haben, sondern auch welchen Einfluss sie auf die Beitrittsverhandlungen des Westlichen Balkans in die EU haben. Wie auch immer diese ablaufen, es ist sicher, dass mit dem Boom von unlimitierten Wasserkraftwerken auf dem Westlichen Balkan ein unersetzbares Stück Natur verloren geht, dass Menschen, Tieren und den Ökosystemen die Lebensgrundlage nehmen wird.
Quellen:
https://exit.al/en/2020/10/02/u-s-to-finance-construction-of-major-albanian-hydropower-plant/
https://www.balkanrivers.net/de/kampagne
https://wwf.panda.org/wwf_news/?364510/WFD-Saved
https://www.wbif.eu/project/PRJ-ALB-ENE-008
https://exit.al/en/2021/11/04/comment-ramas-speech-at-cop26-has-as-many-holes-as-the-ozone-layer/
https://gazetadielli.com/the-environment-is-only-part-of-what-is-at-stake-in-the-skavica-dam/
https://www.erneuerbare-energien.de/EE/Navigation/DE/Technologien/Wasserkraft/wasserkraft.html
https://www.ikb.at/themenwelten/wie-funktioniert-ein-wasserkraftwerk
https://www.hydrosustainability.org/hydropower-sustainability-tools
https://www.wwf.eu/?353552/Western-Balkans-hydropower-Who-pays-who-profits
https://wwfeu.awsassets.panda.org/downloads/who_pays_who_profits.pdf
https://www.youtube.com/watch?v=OhmHByZ0Xd8
https://www.dw.com/en/the-controversy-around-balkan-hydroelectricity/a-59793414