Lea Klipper
Regilaul ist eine poetisch-musikalische Tradition, die in den meisten finno-ugrischen Völkern zu finden ist und bedeutet übersetzt „Verslied“. Regilaul erinnert mit seiner poetischen Form an Lyrik; es sind sozusagen gesungene Gedichte. Dieser Artikel soll einen kurzen Einblick in diese Form estnischen Volkslieder geben.
Entstehung des Regilaul
Da es aus den frühen Zeiten noch keine Aufzeichnungen gibt, ist die genaue Entstehungsgeschichte des Regilaul nicht bekannt. Die frühesten geschriebenen Aufzeichnungen stammen aus dem Mittelalter, aber eine detaillierte Dokumentation fand erst ab dem 20. Jahrhundert statt. Es ist jedoch bekannt, dass Regilaul jahrhundertelang ein wichtiges Mittel war, um sich auszudrücken. Die damalige Musikkultur hatte eine andere Funktion als die heutige. Sie sollte Wissen vermitteln, Erfahrungen austauschen, und dazu beitragen, die Gemeinschaft und die Welt zu verstehen.
Regilaul besteht aus kurzen, melodischen Versen, bei denen die erste Silbe betont und die letzte Silbe länger gesprochen wird. Zudem werden Melodien oft hintereinander wiederholt. Charakteristisch ist außerdem der Gebrauch von zwei Stimmen. Dabei singen sie die letzte Note eines Verses und die erste der nächsten zusammen. So werden die Verse ohne Pause miteinander verbunden. Es gibt jedoch unterschiedliche Varianten, wie Regilaul gesungen wird. Traditionell sang der Hauptsänger im Regilaul einen Vers und der Chor wiederholte diesen anschließend. Andere Möglichkeiten waren, die vollständigen Lieder allein oder im Chor zu singen.
Die Lieder wurden mündlich von Generation zu Generation weitergegeben, da sie ein wichtiger Bestandteil im alltäglichen Leben der Leute bis zum 20. Jahrhundert waren. Vor allem in ländlichen Gegenden wurde Regilaul gesungen. Daher beschäftigen sich die Lieder oft mit Themen wie Viehzucht und Ackerbau. Aber auch Hochzeitszeremonien, Umwerbungen und Zaubersprüche, beziehungsweise magische Lieder, waren Bestandteil des Regilaul. Hochzeitslieder sind die wichtigsten rituellen Lieder im Regilaul. Eine Hochzeitszeremonie dauerte einige Tage und bestand aus Liedern sowie aus Beschwerden und Anschuldigungen zwischen den Verwandten des Hochzeitspaares.
Der Regilaul heute
Einer der bekanntesten modernen Regilaul-Komponisten ist Veljo Tormis (1930-2017). In den 1950er Jahren, als er noch ein Student war, beschäftigte er sich intensiver mit dem Regilaul. Sein Dozent hatte einen großen Einfluss auf ihn und empfahl Tormis, die Melodien der Volksmusik als Ganzes zu bewahren und nicht nur als Grundlage zu nehmen. Tormis nahm diesen Rat zu Herzen und es wurde zu einem Prinzip seiner späteren Werke. Nachdem er einen Artikel über Hochzeitszeremonien in Kihne, einem kleinen Ort an der Westküste, gelesen hatte, entschloss er sich, diesen Ort zu besuchen. Die Tradition war kurz davor zu verschwinden, das inspirierte ihn, sein erstes Werk zu komponieren, das aus Melodien des Regilaul besteht. In den 1970er Jahren komponierte er „Raua Needmine“[1] (dt. der Fluch des Eisens), ein Meilenstein seiner Arbeit. Beeinflusst vom Kalten Krieg wurde das Lied eine „Anti-Kriegs-Komposition“. Zudem ist es sein bekanntestes Werk, das auch am häufigsten außerhalb Estlands aufgeführt wurde. In dieser Komposition wurden Regilaul-Melodien, Verse aus dem Kalevala, dem finnischen Nationalepos – das finnische und estnische Nationalepos haben einige Gemeinsamkeiten – und modernes Estnisch miteinander vermischt.
Veljo Tormis
Eine heutige Band, die die alten Traditionen aufgreift, ist „Trad.Attack!“. Ihre Motivation ist es, Altes mit Neuem zu vermischen. Die Band lässt sich von traditioneller Volksmusik inspirieren und verpackt es in moderne Musik. Sie singen ausschließlich auf Estnisch und ihre Texte bestehen aus alten Zaubersprüchen, Beschwörungsformeln oder Originalaufnahmen. Das Lied „Kuukene“[2] (dt. Mond) ist eine Beschwörungsformel, um Kraft von dem Mond zu erhalten. Am Ende ist eine Aufnahme von Anne Vabarna zu hören.
Trad.Attack!
Anne Vabarna (1877-1964) war eine berühmte Sängerin, die in ganz Estland auftrat. Eine große Anzahl an Versen wurde von ihr aufgenommen. Sie sang in ihren Liedern hauptsächlich über das Leben der einfachen Leute. Ein Beispiel dafür ist das Lied „Kari Kaugel“ [3] (dt. die Herde ist weit weg).
Eine weitere Künstlerin, die sich traditionellen estnischen Liedern widmet, ist die Sängerin und Geigerin Marja Nuut. In ihren Liedern vereint sie Folk mit Elektro. Sie basieren häufig auf alte Geschichten, Sagen oder Märchen. Ein Beispiel dafür ist das Lied „Haned kadunud“[4] (dt. die verschwundenen Gänse), in dem es um eine Magd geht, die eine verlorene Gans sucht.
Maarja Nuut
Obwohl der Regilaul nicht mehr die gleiche Bedeutung hat wie in früheren Zeiten, ist er dennoch ein Teil der heutigen Musikkultur. Einige Musiker bedienen sich an den alten Traditionen und vermischen sie mit modernen Klängen, sodass etwas Neues entsteht und der Regilaul weiter bestehen kann.
Quellen:
Folklore.ee, The Story of Runosong https://folklore.ee/regilaul/lugu/ [26.11.2022]
Lawrence, Mark (2015). Ancient Song Re-employed: The Use of „Regilaul“in the Music of Veljo Tormis“ in Studia Musicologia, Vol. 56, No. 4, Nationalism in music in the totalitarian state. Akadémiai Kiadó, S. 343-353,
Maarja Nuut, Homepage https://maarjanuut.com/about/ [26.11.2022]
Sarv, Mari (2019). Poetic metre as a function of language: linguistic grounds for metrical variation in Estonian runosongs, Studia Metrica et Poetica, S. 102-148
Trad.Attack, Homepage https://tradattack.ee/ [26.11.2022]
Bildquellen:
Veljo Tormis https://lastfm.freetls.fastly.net/i/u/770×0/6a190f5eb3014eaacb76cf9755f16ad6.jpg#6a190f5eb3014eaacb76cf9755f16ad6 [26.11.2022]
Trad.Attack! https://fanvestory.com/de/campaign/25/tradattack-music-deal [26.11.2022]
Maarja Nuut (Titelbild) https://www.womex.com/virtual/estonian_traditional/maarja_nuut [26.11.2022)
[1] https://www.youtube.com/watch?v=PhjPGGSuuNM&t=206s [26.11.2022]
[2] https://www.youtube.com/watch?v=BaP6jUgFGkA [26.11.2022]
[3] https://www.folklore.ee/pubte/eraamat/rahvamuusika/en/007-Kari-kaugel [26.11.2022]
[4] https://www.youtube.com/watch?v=RwyM1rqhuwc [26.11.2022]
