Der Vampir gehört zum feststehenden Ensemble der Horrorfiguren. Unser Bild vom Vampir speist sich dabei aus dem literarischen Klassiker „Dracula“ (1897) des anglo-irischen Schriftstellers Bram Stoker sowie Todd Brownings gleichnamiger Verfilmung (1931) mit dem ungarischen Schauspieler Bela Lugosi. Lokal verortet man den Vampir logischerweise im (Süd-)Osten Europas, so liegt doch Graf Draculas Schloss im rumänischen Transsilvanien. Ironischerweise existiert aber im Rumänischen das Wort Vampir nur als in jüngerer Vergangenheit durch die westliche Vampirliteratur importierter Neologismus[1]. Zwar ist im rumänischen Volks- und Aberglauben tatsächlich die Vorstellung von blutsaugenden Wiedergängern vorhanden, diese sind jedoch nicht als vampir, sondern (u.a.) als strigoi oder moroi geläufig. Das Wort vampir hingegen stammt aus dem Serbischen und ist erst seit 1725 schriftlich nachgewiesen[2]. Unter zahlreichen weiteren Bezeichnungen bekannt stellt der Vampir eine spezifisch südosteuropäische Form des globalen Wiedergängerglaubens dar und erfuhr erst in der Schauerromantik des 19. Jahrhunderts seine heutige Prägung. Der Vampir Mittelost- und Südosteuropas war kein adeliger Dandy oder eine verführerische femme fatale, sondern eine untote Bauernleiche.

Nun stellt sich die Frage: Wie viel ursprüngliches südosteuropäisches lässt sich im westlichen Bild des Vampirs noch erkennen[3]?

Warum sich neben den in Mittelost- und Südosteuropa verbreiteten Bezeichnungen[4] ausgerechnet vampir durch setzte ist purer Zufall[5]. Als die Habsburger nach dem Frieden von Passarowitz 1718 ehemals osmanische Gebiete im heutigen Serbien in ihre Militärgrenze integrierten, stießen Ärzte und Beamte, die nach Serien ungeklärter Todesfälle in den Dörfern Kisolova (1725) und Medveđa (1731/32) dorthin entsandt wurden, auf den Begriff vampir[6]. Die einheimische Bevölkerung lastete die Todesfälle diesen an und öffnete zur Beendigung des Sterbens zahlreiche verdächtige Gräber, um vermeintliche Untote[7] durch Pfählen und Verbrennen unschädlich zu machen. Die Habsburger transferierten den Begriff dann in die Zentren Westeuropas, wo der Vampir für ein kurzes Intervall zu einem hitzig diskutierten Topos der Aufklärung aufstieg[8]. Die westeuropäischen Aufklärer deuteten den Vampir als Hirngespinst der südosteuropäischen Bauern, die sich angestachelt durch ihren Aberglauben in Kombination mit den Verfehlungen der orthodoxen Kirche zu „Tode fürchteten“[9]. Medizinische und theologische Erklärungsversuche sollten die Überlegenheit des Westens postulieren und die bis in die 1760er Jahre andauernde „Vampirismusdebatte“[10] zog eine klare symbolische Trennlinie zwischen Westeuropa als Ort von Zivilisation, Aufklärung und Fortschritt und Osteuropa als Ort von Wildheit, Aberglaube und Rückständigkeit[11].

Nach dem Rückgang des (proto-)wissenschaftlichen Interesses am Vampir drang er im ausgehenden 18. Jahrhundert zögerlich (und noch ohne konkrete Nennung) in die entstehende Schauer- und Frühromantik ein[12], bevor er sich im 19. Jahrhundert als festes Motiv in der Literatur etablieren konnte. Der untote Bauer Südosteuropas mutierte zum gefährlich-verführerischen Aristokraten[13]. Den Grundstein für diese Transformation legte die 1819 erschienene Kurzgeschichte „The Vampyre“ des englischen Schriftstellers (und Leibarztes Lord Byrons) John William Polidori, der in seiner Geschichte mit Lord Ruthven erstmals einen Vampir aus dem Adelsstand präsentierte[14]. Lord Ruthven sollte das Bild des Vampirs für immer verändern. Die bis Stokers monumentalen Roman „Dracula“ (1897) und darüber hinaus erschienene „Vampirliteratur“ griff das Motiv des adeligen Vampirs immer wieder auf, so beispielsweise Sheridan LeFanu mit „Carmilla“ (1872).

Gewisse aus dem südosteuropäischen Aberglauben stammende Merkmale und Motive blieben dem Vampir trotz seiner Umdeutung erhalten. Allen voran sein Untotsein, die Fähigkeit sein Grab zu verlassen und seine Gier nach Blut[15]. Doch im Gegensatz zu seinem literarischen Vetter biss der südosteuropäische Vampir seine Opfer nicht in den Hals, sondern entzog ihnen das Blut vielmehr durch übersinnliche Kräfte (die regional variierenden Vorstellungen vom Vampir sind diesbezüglich sehr unspezifisch)[16]. Dem Volksglauben nach war der Vampir zwar auch fähig sich in Tiere zu verwandeln, jedoch nicht in eine Fledermaus[17]. Die bevorzugte tierische Transformation erfolgte (u.a.) in Schmetterlinge oder Wölfe[18]. Die in Filmen und Comics dargestellte Feindschaft zwischen Vampiren und Werwölfen ist eine reine Erfindung, ursprünglich waren sich Vampir und Werwolf sogar so nahe, dass zwischen ihnen ein fließender Übergang bestehen konnte oder sie sogar gleichgesetzt werden konnten[19]. Die Nachtaktivität und schädliche Auswirkung des Tageslichts sind im Volksglauben Südosteuropas zwar vorhanden, aber nicht durchgehend in allen Variationen. In Albanien und Rumänien büßen Vampire – bzw. deren Äquivalente – am Tag lediglich ihre übernatürlichen Kräfte (enorme Körperkraft; hypnotisierender Blick; Kontrolle und Einflussnahme auf Tiere, Wetter und Ernte[20]) ein[21]. Nosferatus effektvoll dargestellter Zerfall zu Staub im Sonnenlicht erfüllt also einen rein dramaturgischen Zweck. Die im Vampirfilm unerlässliche Eliminierung durch Pfählung mit einem angespitzten durchs Herz gerammten Pflock[22] und die damit einhergehende gemeinschaftsstiftende Wirkung, die literarisch mit Stokers „Crew of light“ exemplarisch Ausdruck findet sind hingegen aus dem südosteuropäischen Volksglauben überliefert[23].

Literatur und Populärkultur behielten also gewisse Eigenschaften des serbischen bzw. südosteuropäischen Vampirs bei, doch gerade manche der gängigsten Vampirstereotypen sind fehlerhafte Überzeichnungen. Lord Ruthven, Carmilla und Dracula entfernten sich so weit von ihrem südosteuropäischen Archetypus, dass sie in Abgrenzung zu diesem wissenschaftlich akkurat als Textvampire bezeichnet werden müssen. Die südosteuropäische Herkunft des Vampirs bot sowohl den Gelehrten der Aufklärung als auch den Autoren des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit ihre westliche Überlegenheit zu konstruieren und den Osten Europas als einen Ort der Rückständigkeit und Bedrohung für den Westen zu stilisieren. Hierbei spielten mangelnde Kenntnisse über das südöstliche und östliche Europa in Kombination mit fehlender oder mangelhafter Quellenkritik und Fokussierung auf Effekthascherei eine zentrale Rolle.

 

Quelle: Thomas M. Bohn, Der Vampir. Ein europäischer Mythos. Köln, Weimar, Wien 2016.

 

Quellen:

Bohn, Thomas M., Der Dracula-Mythos. Osteuropäischer Volksglaube und westeuropäische Klischees, Historische Anthropologie 14 (2006), 391–409.

Bohn, Thomas M., Der Vampir. Ein europäischer Mythos. Köln, Weimar, Wien 2016.

Burkhart, Dagmar, Kulturraum Balkan. Studien zur Volkskunde und Literatur Südosteuropas. Berlin, Hamburg 1989.

Endress, Johannes, Vampires and the Orient in Goethe’s „Die Braut von Korinth“, The German Quarterly 93 (2020), H. 2, 204–215.

Hamberger, Klaus, Mortuus non mordet. Dokumente zum Vampirismus 1689–1791. Wien 1992.

Kreuter, Peter Mario, Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeutung und Funktion. Rumänien und der Balkanraum. Berlin 2001.

Kreuter, Peter Mario, Er steht sogar im Merian. Zum vampiresken Verwaltungsschriftgut des 18. Jahrhunderts aus dem Hofkammerarchiv, in: Christoph Augustynowicz / Ursula Reber (Hgg.), Vampirismus und magia posthuma im Diskurs der Habsburgermonarchie. Wien, Berlin 2011, 223–230.

Kührer, Florian, Vampire. Monster, Mythos, Medienstar. Kevelaer 2010.

Morrison, Robert / Baldick, Chris, Introduction, in: John Polidori, The Vampyre and Other Tales of the Macabre, hg. von Morrison / Baldick. Oxford 2008, vii–xxii.

Schroeder, Aribert, Vampirismus. Seine Entwicklung vom Thema zum Motiv. Frankfurt/M. 1973.

 

[1] Vgl. Florian Kührer, Vampire. Monster, Mythos, Medienstar. Kevelaer 2010, 19. Zudem war Stokers „Dracula“ in Rumänien bis 1989 so gut wie unbekannt (vgl. Thomas B. Bohn, Der Dracula-Mythos. Osteuropäischer Volksglaube und westeuropäische Klischees, Historische Anthropologie 14 (2006), 391–409, 392).

[2] Vgl. Aribert Schroeder, Vampirismus. Seine Entwicklung vom Thema zum Motiv. Frankfurt/M. 1973, 15; Peter Mario Kreuter, Er steht sogar im Merian. Zum vampiresken Verwaltungsschriftgut des 18. Jahrhunderts aus dem Hofkammerarchiv, in: Christoph Augustynowicz / Ursula Reber (Hgg.), Vampirismus und magia posthuma im Diskurs der Habsburgermonarchie. Wien, Berlin 2011, 223–230, 226.

[3] Im südosteuropäischen Raum existieren bezüglich des Aussehens des Vampirs differierende Vorstellungen, generell gleicht der Vampir dem Aussehen der verstorbenen Person und der Zustand einer „vervampirten“ Leiche gilt als nahezu unversehrt (Peter Mario Kreuter, Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeutung und Funktion. Rumänien und der Balkanraum. Berlin 2001, 29; Dagmar Burkhart, Kulturraum Balkan. Studien zur Volkskunde und Literatur Südosteuropas. Berlin, Hamburg 1989, 71).

[4] Über den mittelost-, ost- und südosteuropäischen Raum verteilt existieren neben vampir (serb.) noch u.a. die Begriffe vukodlak (serb.), štrigun (kroat.), vrykolakas (griech.), talasăm (bulg.), strigoi und moroi (rum.), upyr (ukr.), upiór (poln.), vgl. Karte auf den ersten beiden Seiten von Thomas M. Bohn, Der Vampir. Ein europäischer Mythos. Köln, Weimar, Wien 2016, siehe am Ende.

[5] Vgl. Kührer, Vampire, 18. Der Vampirglaube weist Überschneidungen mit den in Nord- und Westeuropa verbreiteten Vorstellungen von Nachzehrer, Alp und Aufhocker auf, unterscheidet sich jedoch von diesen durch seinen Blutkonsum. Zur Abgrenzung voneinander zieht der deutsche Osteuropahistoriker Thomas Bohn einen „Vampirgürtel“ (Bohn, Der Vampir, 10) entlang der Randgebiete des Kiewer und Zarenreiches, Polen-Litauens, Preußens sowie des Habsburger und Osmanischen Reiches (vgl. ebenda).

[6] Vgl. Kreuter, Der Vampirglaube in Südosteuropa, 81–96; Klaus Hamberger, Mortuus non mordet. Dokumente zum Vampirismus 1689–1791. Wien 1992, 43–62.

[7] Als Anzeichen für eine „vervampyrte“ Leiche galten u.a. Blut im Mund, ein aufgedunsener Körper – dieser ließ in der Wahrnehmung der Menschen den Eindruck entstehen, die Leiche habe sich nach ihrem Ableben noch genährt – und scheinbar gewachsene Haare sowie Finger- und Zehennägel (vgl. Kreuter, Der Vampirglaube in Südosteuropa, 30, 164; Hamberger, Mortuus non mordet, 45; Burkhart, Kulturraum Balkan, 73 / Hamberger, Mortuus non mordet, 52 / Ebenda, 44 / Ebenda, 44, 51). Die heutige Wissenschaft kann all diese „Vampirerkennungsmerkmale“ als gewöhnliche Fäulnis- und Verwesungsprozesse erklären. Da dieses Wissen den südosteuropäischen (hier serbischen) Dorfbewohnern jedoch nicht zugänglich bzw. noch gar nicht vorhanden war, verwundert es nicht, dass zur Erklärung dieser Beobachtungen übernatürliches Verhalten herangezogen wurde.

[8] Vgl. Hamberger, Mortuus non mordet, 7–8; Schroeder, Vampirismus, 70.

[9] Wie der Vampirglaube entstand, lässt sich nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Wahrscheinlich führte eine komplexe Wechselwirkung zwischen bluttrinkenden Sagengestalten der griechischen Mythologie (z. B. Lamien und Empusen) und der Verdrängung der Feuerbestattung durch die Erdbestattung (vgl. Kreuter, Der Vampirglaube in Südosteuropa, 153; Bohn, Der Vampir, 10) sowie der Fehlinterpretation von Fäulnis- und Verwesungsprozessen zu einer Ausformung des Wiedergängerglaubens. Im Falle des Vampirs wirkte sich die in der orthodoxen Kirche verbreitete Vorstellung von einem mindestens 40-tägigen Verbleib der Seele auf der Erde nach dem Tod und der fehlenden Information, wo sich die Seele in diesem Zeitraum aufhält, weiter begünstigend auf die Entstehung ein (vgl. Kreuter, Der Vampirglaube in Südosteuropa, 143–149).

[10] Vgl. Hamberger, Mortuus non mordet, 8

[11] Vgl. Ebenda, 10; Kreuter, Der Vampirglaube in Südosteuropa, 86.

[12] Hierbei sei auf Gottfried August Bürgers Ballade „Lenore“ (1773) sowie Samuel Taylor Coleridges englische Übertragung Lenores „Christabel“ (1797) und Goethes „Die Braut von Korinth“ (1797) hingewiesen. In keinem dieser Werke taucht das Wort „Vampir“ auf, doch die Motivik lässt sich als „vampiresk“ deuten und gilt somit als Vorstufe zur Entstehung des literarischen Vampirs nach heutigem Verständnis (vgl. Bohn, Der Vampir, 23; Schroeder, Vampirismus, 180–185; Johannes Endress, Vampires and the Orient in Goethe’s „Die Braut von Korinth“, The German Quarterly 93 (2020), H. 2, 204–215, 204).

[13] Die adelige Charakteristik im Sinne eines Blutsaugers existierte als politische Metapher schon früher und wurde erstmals von Voltaire verwendet (vgl. Kreuter, Der Vampirglaube, 91).

[14] Vgl. Robert Morrison / Chris Baldick, Introduction, in: John Polidori, The Vampyre and Other Tales of the Macabre, hg. von Morrison / Baldick. Oxford 2008, vii–xxii, x–xi, xx.

[15] Der deutsche Historiker und Balkanologe Peter Mario Kreuter definiert den Vampir folgendermaßen: „[…] wiederkehrender Toter, der sein Grab verläßt [sic!], um Lebenden das Blut auszusaugen, das Vieh zu ruinieren oder anderen Schaden zuzufügen“ (Kreuter, Der Vampirglaube, 17).

[16] Kreuter konnte in seiner Forschung nachweisen, dass die vom Vampir attackierten Körperstellen „vom Hals über das Herz und den Bauch bis zu den Stellen zwischen Augen und Zehen“ (Kreuter, Der Vampirglaube in Südosteuropa, 170) reichen und im südosteuropäischen Aberglauben auch eher von einem „Blutziehen“ denn einem „Blutsaugen“ die Rede ist und Blut auch nicht als ein konkretes Lebensmittel zu verstehen ist, sondern als Lebensenergie (vgl. ebenda, 174).

[17] Die Assoziation mit einer Fledermaus entstand durch den französischen Naturforscher Georges-Louis Leclerc (1707–1788), der eine vermeintlich blutsaugende Fledermausart inspiriert durch die „Vampirismusdebatte“ in der Mitte des 18. Jahrhunderts Vampirfledermaus taufte (vgl. Kreuter, Der Vampirglaube in Südosteuropa, 31–32). Die Annahme des Blutsaugens erwies sich jedoch als falsch (vgl. ebenda, 31–32, Fn. 93), gebar jedoch die insbesondere im 20. Jahrhundert durch Filme und Comics manifestierte Assoziation des Vampirs mit Fledermäusen (vgl. Schroeder, Vampirismus, 29).

[18] Vgl. Kreuter, Der Vampirglaube, 31.

[19] Vgl. Ebenda, 63; Burkhart, Kulturraum Balkan, 104. Diese Nähe wird auch durch die äquivalenten Bezeichnungen vukodlak (serb.) und vălkodlak/vărkodlak (bulg.) deutlich, die sich mit „Werwolf“ übersetzen lassen (vgl. Kreuter, Der Vampirglaube, 62–63). Zudem war der Glaube verbreitet, dass Werwölfe sich nach ihrem Tod automatisch in Vampire verwandeln würden (vgl. ebenda, 63; Burkhart, Kulturraum Balkan, 104).

[20] Vgl. Kreuter, Der Vampirglaube, 32.

[21] Vgl. Ebenda, 13 Fn. 3.

[22] Vgl. Ebenda, 43.

[23] Vgl. Ebenda, 149–152.