Die Identität der Kaliningrader ist zugleich ein hoch-politisches und wenig erforschtes Thema. Es wird in Russland und der EU viel darüber diskutiert, welche Bedeutung eine selten bis nie definierte Identität spielt. Da die Zusammensetzung der Bevölkerung in der Region war sehr variabel über die Zeit ist, ist es unmöglich eine historische Identität zu definieren (i). Darüber hinaus wird oft die westliche Dimension ihrer Identität diskutiert (ii). Entsprechend wird meist versucht die Bewohner des Oblast Kaliningrads auf einer Skala von prototypisch russisch bis prototypisch westlich zu definieren. Eine solche Quantifizierung macht jedoch wenig Sinn, wie im Anschluss erklärt wird.
Europäische Identität
Die geographische Lage des Oblast Kaliningrads ist besonders, da die Region eine russische Exklave zwischen zwei EU-Mitgliedern ist. Die Aussenpolitik Russlands hat dabei lange den Handel der Region gefördert und spezielle Grenzregime erlaubten der Bevölkerung flexible Grenzübertritte nach Polen und Litauen (iii). Dadurch entstand nebst wirtschaftlicher Produktivität auch ein Austausch der russischen Zivilbevölkerung mit den EU-Bürgern von nebenan, was wiederum zu einem Austausch an Ideen führte. Zusätzlich favorisierte Russlands Innenpolitik die Interessen des gesamten Landes gegenüber regionalen Spezifitäten (iv). Diese zwei Faktoren führten in den letzten 30 Jahren dazu, dass sich manche Anwohner Kaliningrads europäischen Werten näher als den russischen fühlten und Projekte vorschlugen, die diese duale Identität verkörperten; Dabei wurden nebst kulturellen Projekten auch die Unabhängigkeit und eine Bewerbung zum EU-Beitritt diskutiert (v).
Besonders interessant ist das Verständnis von Kultur in der Region. Dabei wird die preussische Zeit als kulturell wertvoller als die Sowjetzeit beschrieben, obwohl eine Annäherung an die deutsche Kultur kein Ziel ist (vi). Erstaunlicherweise war zum Beispiel Kant in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich beliebter als er in Preussen gewesen war, was an der Renovation seines Grabes erkannt werden soll. Es wurde jedoch auch bemerkt, dass architektonische Bemühungen nicht überbewertet werden sollten, da sie hauptsächlich ästhetische und ökonomische Ziele verfolgen (vii). Erst in der 1980er im Rahmen der Perestroika konnte sich die Bevölkerung mit der vor-Kriegsgeschichte auseinandersetzen und noch heute ist das Informationsniveau zu diesem Thema eher mittelmässig (viii).
Insgesamt wird daher die europäische Kultur durchaus in der Kaliningrader Bevölkerung thematisiert. Die Wichtigkeit abzuschätzen ist jedoch schwierig. Insgesamt stellt sich die Frage, ob sich der westliche Einfluss auf materielle Sachverhalte beschränkt oder auch ideologische Werte einschliesst. Diese Frage kann nicht abschliessend beantwortet werden aber manche Forschende argumentieren, dass die Reaktionen zum Ukraine-Konflikt darauf hinweisen, dass die Interessen vorwiegend ökonomischer Natur seien (ix).
Russische Identität
In der Praxis wurden statt den europäischen Projekten, Kultur- und Bildungsprogrammen zur Stärkung der russischen Identität aufgebaut und manche sahen eine Annäherung an den Westen als Bedrohung für Russland und seine Werte (x).
Im Rahmen von Interviews beschrieben Menschen mit Macht über die lokale politische Agenda ihre Identität mit einem variablen Grad an regionaler Spezifizität: manche sahen sich als spezielle Russen während andere kaum Unterschiede zu anderen Regionen erkannten (xi). Trotzdem beschrieben sich alle als Russen. Es ist daher keine einheitliche Definition zu erkennen und die individuelle Wahrnehmung spielt eine grosse Rolle. Da die Region seit 1945 Teil der UdSSR und Russlands ist, hat die Bevölkerung eine kulturelle, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Integration erfahren (xii).
Fazit
Entsprechend kann daher festgehalten werden, dass es unklar ist, ob und inwiefern Kaliningrad durch seine Lage im Westen sich vom Rest von Russland unterscheidet. Dabei spielen sowohl gesellschaftliche Diskussionen als auch individuelle Meinungen eine grosse Rolle. Um die Frage nach der Identität der Kaliningrader abschliessend zu beantworten, müssten viele Ressourcen in Forschung vor Ort zu diesem Thema fliessen.
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Quellen:
i Vendina, O.i., Gritsenko, A.A., Zotova, M.V. & Zinovyev, A.S. (2021). Identity of Kaliningraders: influence of Social Beliefs on the Choice of Self-Identification. Regional Research of Russia, 11, S. 533-542. Abgerufen unter: https://link.springer.com/article/10.1134/S2079970521040195#citeas
ii Zieliński, M. (2018). Kant’s Future: Debates about the Identity of Kaliningrad Oblast. Slavic Review, 77(4), S. 937-956. doi:10.1017/slr.2018.291
iii Kronenfeld, D.T. (2010). Kaliningrad in the Twenty-First Century—Independence, Semi-Autonomy, or Continued Second-Class Citizenship? Autonomy, or Continued Second-Class Citizenship. Washington University Global Studies Law Review, 9(1), S. 153-170. Abgerufen unter: https://openscholarship.wustl.edu/cgi/viewcontent.cgi?referer=&httpsredir=1&article=1043&context=law_globalstudies
iv (Zieliński, 2018; Kronenfeld, 2010)
v (Zieliński, 2018; Kronenfeld, 2010)
vi (Vendina et al. 2021)
vii (Zieliński, 2018)
viii (Zieliński, 2018; Vendina et al., 2021)
ix Siegień, P. (2016). Kaliningrad: A beleaguered fortress or Russia’s western gateway? New Eastern Europe, 02(21), S.130-135. Abgerufen unter: https://www.ceeol.com/search/article-detail?id=459386
x (Zieliński, 2018)
xi (Vendina et al., 2021)
xii (Zieliński, 2018)