Georg Hutter
Mit 526 Kilometern ist die heutige ukrainisch-polnische Grenze in einem gesamteuropäischen Kontext zwar keine besonders Lange, dennoch sind die beiden Staaten Polen und Ukraine massiv miteinander verwoben und teilen eine lange (und blutige) Geschichte miteinander. Über die Zeit haben sich sowohl kulturelle Ähnlichkeiten, genauso wie Rivalitäten und Narben im gegenseitigen Geschichtsbewusstsein entwickelt. Wie sich diese sowohl konfliktreiche als auch brüderliche Beziehung im Laufe der Zeit herausgebildet hat, versucht der Autor in diesem Essay zu beschreiben.
Sowohl die Ukrainer als auch die Polen sind kulturell gesehen Slawen, Unterschiede zwischen den westslawischen Polen und den ostslawischen Vorfahren der Ukrainer bildeten sich aber schon im Frühmittelalter heraus. Nach dem Zusammenbruch des ersten ostslawischen Staates, der Kiewer Rus‘ durch die Mongoleninvasion 1240 wurde das Gebiet, das man heute Ukraine nennt, zum größten Teil vom Großfürstentum Litauen absorbiert. Im 14. Jahrhundert erbten die Jagiellonen, die litauische Fürstendynastie, das Königreich Polen und die beiden Staaten wurden mit der Union von Lublin 1569 zu einem gemeinsamen Staat, Polen-Litauen, vereinigt. Dadurch befanden sich sowohl Ukrainer als auch Polen in einem gemeinsamen Staat und die lange gemeinsame Geschichte der beiden Nationen begann.
Zwischen Polen und Ukrainern kam es schnell zu einem konfessionellen Konflikt, die Katholiken in Polen Litauen wurden zu Ungunsten der orthodoxen Ukrainer und Weißrussen bevorzugt. Die westukrainische Elite passte sich schnell an die neuen Gegebenheiten an, konvertierte und polonisierte sich schnell, aber in der Ostukraine bildeten sich sogenannte Kosakenföderationen heraus, die gegen die Macht der polnischen Großgrundbesitzer protestierten und ab dem 17. Jahrhundert weite Teile der Ukraine unter ihren Besitz bringen konnten.[1] 1648, während das Kernland Polens zum größten Teil von den Schweden besetzt wurde (die sogenannte „Schwedische Sintflut“ oder „Potop“) nutzten die Kosaken unter der Führung des Hetmans Bohdan Chmelnyzkyj die Situation aus, um Polen zu überfallen und die Unabhängigkeit zu erlangen.
Mit diesem Moment begann der Konflikt um die Geschichte und die Konflikte um historische Symbolik zwischen den Ukrainern und Polen. Während heute noch der Kosakenführer Bohdan Chmelnyzkyj als Nationalheld verehrt wird und auf der ukrainischen 5-Hrywnja-Note abgebildet ist oder beispielsweise eine riesige Chmelnyzkyj-Statue im Stadtzentrum Kiews steht, wird er im polnischen Geschichtsbild viel negativer dargestellt. So wird ihm zum Beispiel vorgeworfen, Massaker an Polen und Juden begangen zu haben und sich durch den Vertrag von Perejaslaw mit Russland vebündet zu haben.
Den Kosaken in der Ostukraine gelang letztendlich ihre Unabhängigkeit und die Ukrainer der Westukraine forderten im 18. Jahrhundert ebenfalls ihre Unabhängigkeit und formierten sogenannte Hajdamakenverbände, die gegen die polnischen Großgrundbesitzer rebellierten. Im 18. Jahrhundert war der Polnisch-Litauische Staat militärisch und diplomatisch gesehen aber schon so schwach, dass er sich selbst kaum noch verteidigen konnte und mit den berühmten drei Polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts endete Polen-Litauen vollends.
Die Mächte, die Polen untereinander aufteilten (Preußen, Österreich und Russland) schenkten bei der Aufteilung Polens der ethnischen Distribution des Landes wenig Aufmerksamkeit. Ein Teil Polens fiel an Preußen, Ostpolen und die Ostukraine fiel an Russland und Südpolen und die Westukraine bekam das Habsburgerreich zugestanden. Es waren also sowohl in Russland also auch in Österreich Ukrainer und Polen präsent. Während es in der Aufteilungsperiode im 19. Jahrhundert zu freundschaftlichen Verhältnissen zwischen russischen Polen und russischen Ukrainern kam[2], kam es zwischen Ukrainern und Polen des österreichischen Reichsteils vermehrt zu Konflikten. Besonders die Stadt Lemberg und ihre Universität stand im Zentrum dieser Konflikte.[3]
Mit dem Zusammenbruch der Imperien während des Ersten Weltkriegs kam es zu einer Eskalation der Gewalt zwischen Ukrainern und Polen um die Stadt Lemberg und sobald sich ab 1918 ein ukrainischer und ein polnischer Staat entwickelt hatte, kam es zu Kriegshandlungen in der Region, dem sogenannten polnisch-ukrainischen Krieg. Polen konnte den Krieg gewinnen und die heutige Westukraine mitsamt der Stadt Lemberg besetzten, der Rest der Ukraine wurde von der Sowjetunion eingenommen.
In der polnisch besetzten Westukraine, welche zu 62% aus Ukrainern bestand, kam es abermals zu Spannungen zwischen Polen und Ukrainern, da die Ukrainer den Polen vorwarfen, sie polonisieren zu wollen. Die Ukrainer des neuen polnischen Staates fühlten sich Polen nie zugehörig und betrachten den Zustand Galiziens während der Zwischenkriegszeit vielmehr als Okkupation.[4] Auch Gesetze zum Minderheitenschutz der Ukrainer hatten kaum eine Wirkung.[5]
Als die Staatlichkeit mit dem Zweiten Weltkrieg wieder auseinanderbrach entlud sich der Konflikt zwischen Ukrainern und Polen erneut und es wurde eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die bis heute tiefe Narben im polnischen und ukrainischen Geschichtsbewusstsein hinterlassen haben. Durch die Besatzung der Truppen des Dritten Reiches wurde de-facto Anarchie und Gewalt in Ostmitteleuropa eingeführt. Da die polnische Exilregierung in London ihre Ansprüche auf die Westukraine nicht aufgab, befürchtete die ukrainische Bevölkerung der polnisch-ukrainischen Grenzländer eine Rückeroberung bzw. erneute Besatzung durch Polen nach dem Krieg. Es folgten mehrere Massaker und ethnische Säuberungen zwischen Ukrainern und Polen in der Region, die zu schätzungsweise 70.000 bzw. 100.000 Opfern auf polnischer Seite und 15.000 bzw. 20.000 Opfern auf ukrainischer Seite führte.[6]
Nach dem Zweiten Weltkrieg annektierte die Sowjetunion die Westukraine und so entstand die heutige Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Mit der Operation Weichsel im Jahr 1947 wurden viele Ukrainer aus Polen ausgesiedelt und viele Polen aus der Ukraine vertrieben. Aus dem ursprünglich multikulturellen Grenzraum zwischen Polen und der Ukraine wurde eine klar definierte, harte Staatsgrenze.
Bis heute ist in beiden Ländern nicht ganz klar, wie man mit so einer konfliktreichen Geschichte umzugehen hat. Besonders der Umgang mit den polnisch-ukrainischen Massakern während des Zweiten Weltkrieges ist es schwierig, da der Konflikt in beiden Ländern entweder verschwiegen, übertrieben oder dramatisiert wird.[7] Natürlich gibt es heute auch noch Probleme zwischen den beiden Ländern, wie zum Beispiel das Wohlstandsgefälle zwischen Polen und der Ukraine und die unterschiedlichen politischen Entwicklungen in beiden Ländern.[8] Die Situation zwischen Polen und der Ukraine hat sich heute aber wieder entspannt und keine politisch ernstzunehmende Gruppe in Polen erhebt noch ernsthafte Ansprüche auf die heutige Westukraine, die vor weniger als 80 Jahren noch zu Polen gehört hat.[9]
Außerdem war Polen auch das erste Land, welches die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannte und Warschau unterzeichnete schon 1992 ein Freundschaftsabkommen mit Kiew, 5 Jahre bevor Russland dasselbe tat.[10] Auch die gemeinsame Austragung der Europa-Fußballmeisterschaft 2012 und gemeinsame Militäroperationen (wie zum Beispiel das polnisch-ukrainische Bataillon) zeugen davon, dass sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder entspannen.
Das Verhältnis zwischen Polen und der Ukraine hat sich dadurch noch mehr verbessert, dass Polen die Ukraine während dem Krimkonflikt aktiv unterstützt hat und tausende ukrainische Flüchtlinge aus dem Donezk-Becken aufnahm. Polen ist ein starker Befürworter der Westorientierung der Ukraine und versucht die Ukraine fit für eine Aufnahme in die EU und die NATO zu machen.[11] Warschau könnte also für Kiew der Schlüssel zum Westen sein. Es kommt jetzt ganz auf die Ukraine an, die vergangenen Konflikte zu überwinden und diese Chance zu nützen.
Referenzen:
[1] Weronika Priesmeyer-Tkocz, Polen und die Europäisierung der Ukraine. Die polnische Ukraine-Politik im Kontext der europäischen Integration (ungedr. Diss. Freie Universität Berlin 2010).
[2]Alexei Miller, Ukrainophilia. In: Russian Studies in History (Vol. 44, No. 2, 2005), 31.
[3]Simon Halder & Francisca Solomon, In: Galizien, Fragmente eines diskursiven Raumes; Hrsg.: Doktoratskolleg Galizien (Innsbruck, Wien, Bozen 2009), 26.
[4] Grzegorz Rosolinski-Liebe, Der polnisch-ukrainische Konflikt im Historikerdiskurs. Perspektiven, Interpretationen und Aufarbeitung (Wien 2017), 30.
[5] Priesmeyer-Tkocz, Polen und die Europäisierung der Ukraine, 118-119.
[6] Rosolinski-Liebe, Der polnisch-ukrainische Konflikt im Historikerdiskurs 36-38.
[7] Für weitere Informationen zu den verschiedenen Meinungen über den polnisch-ukrainischen Konflikt siehe: Rosolinski-Liebe, Der polnisch-ukrainische Konflikt im Historikerdiskurs.
[8] Kerski, Dje polnisch-ukrainischen Beziehungen am Beginn des 20. Jahrhunderts, 60.
[9] Basil Kerski, Dje polnisch-ukrainischen Beziehungen am Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Renata Makarska & Basil Kerski (Hrsg.), Die Ukraine, Polen und Europa. Europäische Identität an der neuen EU-Ostgrenze (Veröffentlichungen der deutsch-polnischen Gesellschaft Bundesverband e.V. 3, Osnabrück 2004), 56.
[10] Kerski, Dje polnisch-ukrainischen Beziehungen am Beginn des 20. Jahrhunderts, 58.
[11] Kai-Olaf Lang, Polen und die Ukraine: eine strategische Partnerschaft für das neue Europa? In: Renata Makarska & Basil Kerski (Hrsg.), Die Ukraine, Polen und Europa. Europäische Identität an der neuen EU-Ostgrenze (Veröffentlichungen der deutsch-polnischen Gesellschaft Bundesverband e.V. 3, Osnabrück 2004), 53.
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