Jeden Sommer kommen mehr als 700 junge Menschen mit Hilfe eines Stipendiums aus über 70 Ländern in das kleine Taldorf Alpbach nach Österreich. Hier, wo der berühmte Quantenforscher und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger (und angeblich auch seine Katze) begraben liegt, haben StudentInnen aus aller Welt die Möglichkeit in einem informellen Umfeld mit renommierten WissenschaftlerInnen und ExpertInnen ins Gespräch zu kommen. Seit 1945 stellt das Europäische Forum Alpbach (EFA) somit eine bedeutende Denkfabrik dar, die dem kulturellen und sozialen Austausch sowie der Stärkung Europas dienen soll.
TeilnehmerInnen des diesjährigen Forums konnten zwischen zwanzig verschiedenen Seminaren zum Generalthema „Konflikt und Kooperation“ wählen. Das Seminar mit dem Titel „Transitional Justice: Fallbeispiele Balkan und Südafrika“ veranschaulicht durch Vorträge, Diskussionen und Rollenspiele was nach dem Ende eines Kriegs geschieht. Wie reagieren Menschen auf ihre gewaltsame Vergangenheit? Können traumatisch geprägte Gesellschaften problemlos erneut friedlich zusammenleben? Wenn ja, ab welchem Zeitpunkt ist dies möglich? Und was genau versteht man unter „Transitional Justice“?
Das Internationale Zentrum für Transitional Justice (ICTJ) definiert den Begriff wie folgt: „Unter Transitional Justice versteht man jene Bemühungen die Vergangenheit eines gewaltsamen Konflikts aufzuarbeiten, um den Übergang zu einer friedlichen Gesellschaftsordnung zu ermöglichen.“ Seminarsprecherin Dr. Obradovic-Wochnik, Professorin für Politik an der University of Birmingham, definiert Transitional Justice als einen fortlaufenden Prozess, der nur schwer zeitlich eingegrenzt werden kann. Der internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) mit Sitz in Den Haag stellt in Hinblick auf die Balkankriege einen wichtigen Bestandteil des Transitional Justice Prozesses dar.
Mehr als zwanzig Jahre nach den Balkankriegen ist der Strafgerichtshof weiterhin aktiv – das nächste Urteil ist für November 2017 geplant. Sollte es sich bei diesem Urteil um das letzte handeln, bedeutet dies das Ende der Aufarbeitung der Jugoslawienkriege? Lässt die Bevölkerung die Vergangenheit damit hinter sich ruhen, und überlässt das Thema stattdessen dem Geschichtsunterricht? In den regen Diskussionen des Seminars deuten viele Aussagen der TeilnehmerInnen (darunter einige aus dem Balkan) auf das Gegenteil hin. Es gäbe durchaus Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien die bei Reisen durch die Nachbarländer, aus Angst vor hämischen Bemerkungen, bis heute ihre Nationalität verschweigen. Andere wiederum hätten mit einer Aufarbeitung der Kriege gar nicht erst angefangen, sondern verdrängen und leugnen ihre Vergangenheit.
Auch mit dem letzten Urteil des ICTY also, kann von keinem erfolgreich abgeschlossenen Aufarbeitungsprozess die Rede sein. Dr. Obradovic-Wochnik bestätigt: „Transitional Justice im Balkan ist mehr als nur eine Organisation wie dem ICTY. Es besteht aus einer Vielzahl von weniger greifbaren Mechanismen, die der Gesellschaft mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit dienen – davon umfasst sind Kriegsveteranen, die ehemalige gegnerische Kämpfer kontaktieren. Oft sind zivilgesellschaftliche Organisationen wie Schachclubs oder Nachbarschaftstreffen jene Orte, an denen sich Menschen über Politik und die Vergangenheit unterhalten.“ Die NGO „Documenta“ ermöglicht es den Opfern und Kämpfern der Balkankriege ihre Erlebnisse über Videokanäle an die Öffentlichkeit zu bringen und so zu verarbeiten. Unzählige weitere Organisationen und (Kunst-)Projekte sind Teil des Transitional Justice Prozesses, der wohl noch längere Zeit andauern wird.
Langsam wird klar, dass das Europäische Forum Alpbach selbst einen Teil des Aufarbeitungsprozesses der Balkankriege darstellt. Nicht nur präsentieren junge Menschen aus aller Welt im Seminar „Transitional Justice“ ihre Gedanken zur Vergangenheit und Zukunft des Balkan. Gleichzeitig entstehen inoffizielle Facebook Gruppen mit dem Namen „EFA Blkn Crew“ in denen StudentInnen aus Bosnien, Serbien, Kroatien, Kosovo, Montenegro, Mazedonien und mehr vertreten sind. Gemeinsam planen sie (Feier-)Abende, Wandertouren durch die Berge, teilen Gruppenfotos und schließen grenzüberschreitende Freundschaften. Spannungen und Vorurteile, die von der älteren Generation auf die heutige (wenn auch nur unbewusst) übertragen worden sind, werden durch solche und ähnliche Aktivitäten abgebaut und überwunden. Die Wirkungen dieser „im Verborgenen“ ablaufenden Mechanismen dürfen damit auf keinen Fall unterschätzt werden.
Im Seminar meldet sich ein Mädchen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu Wort: „Das ist das erste Mal, dass ich mit Menschen aus dem gesamten Balkan ein objektives und ehrliches Gespräch über unsere Vergangenheit führe. Auch wenn dieses Seminar an den meisten von euch relativ neutral und emotionslos „vorbeigezogen“ ist, so hat es mich persönlich doch unheimlich stark berührt zu sehen, dass der Wille zur gesellschaftlichen Wiedervereinigung des Balkans vorhanden ist.“ Das Europäische Forum Alpbach leistet somit jährlich aufs Neue einen bedeutenden Beitrag zur Stärkung des Balkans und der Europäischen Union.
Titelfoto: @ Philipp Eisingerich
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