Bosnien und Herzegowina feierte am 1. März 26 Jahre Unabhängigkeit. Doch das kleine Land auf dem Balkan ist noch weit entfernt von einem funktionierenden und gemeinsamen Staat zwischen Bosniaken, Kroaten und Serben, den drei konstitutiven Volksgruppen. Aktivisten setzen daher auf die junge Generation – und versuchen mittels Seminaren, Workshops und gemeinsamen Aktivitäten ein Gemeinschaftsgefühl herbeizuführen. Einer davon ist der bosnische Kroate Drago Bojić, Franziskanerpriester und katholischer Theologe, der selbst die eigene Riege kritisiert. Am Seminar in Prozor am 24. Februar fordert er deshalb einen kritischen Umgang mit der Vergangenheit.

Es ist 12.00 Uhr in Prozor, einer ethnisch gemischten Kleinstadt in Zentralbosnien, als sich Schüler aus Prozor, Gornji Vakuf-Uskoplje und Jajce in einem verrauchten Restaurant einfinden. Gemütlich sitzen sie da, plaudern und scherzen miteinander – trotz beissendem Zigarettenrauch, der sich wie ein Schleier um die Leute legt. Doch das macht den Schülern nichts aus, denn hier spielt es keine Rolle ob man Selma, Nikolas oder Ivan heisst. Ohne die kritischen Augen der Nachbarn oder Verwandten können sich die Teenager hier sorgenfrei mit den “Anderen” – ein Begriff, um die andere ethnische Gruppe zu beschreiben – austauschen.

Die Mittelschüler sind allesamt in den Jugendzentren ihrer Städte aktiv, und haben sich am 24. Februar in Prozor getroffen, um an einem Dialog zur Geschichtsbewältigung teilzunehmen. Organisiert von der Friedensorganisation forumZFD, hat der Dialog zum Ziel, inter-ethnische Beziehungen zu stärken und Hindernisse zu überwinden.

Doch wie übermittelt man Jugendlichen, die in ethnisch geteilten Städten aufgewachsen sind und die Segregation am eigenen Leibe erfahren haben, dass man nicht “nur” verschieden ist sondern auch viele Gemeinsamkeiten hat? Natürlich mit einer kontroversen Figur aus den eigenen Reihen; einem Franziskaner aus Sarajevo, der gegen den Willen einiger Religionsvertreter und Politikern für ein gemeinsames Bosnien plädiert.

 

Geschichte ist ein Instrument der Politik

Drago Bojić, einer der umstrittensten Personen in katholisch-kroatischen Kreisen in Bosnien, überzeugt nicht nur mit seiner Präsenz sondern auch mit seinen Worten. So kritisiert er öffentlich die Verflechtung von Religion und Staat in Bosnien, das ethnisch geteilte Schulwesen und die Verherrlichung von Kriegsverbrechern seitens der Politik. In seinen Reden weist er auf die Verbindung der katholischen Kirche mit der kroatisch-nationalen Partei HDZ hin. Wegen seiner scharfen Worte gegen die “eigenen” Leute wurde er auch schon von einigen Ämtern enthoben.

Am Seminar in Prozor fährt er mit seiner Mission wie gewohnt weiter. “Geschichte ist eine Sklavin der Nation,” sagt er zu den Schülern. Damit macht er deutlich, dass Politik und Geschichte eng miteinander verflochten sind, da sich eine Nation über Geschichte und Mythen definiert, teils auch erfundene. “Geschichte ist oft ein Instrument der Politik, und wird missbraucht, um sich von einer anderen Gruppe abzugrenzen,” fährt er fort. Mythen werden erfunden, um die nationale bzw. ethnische Kohäsion zu unterstreichen und die Homogenität einer Nation zu gewährleisten. Dies hat sich schon mehrmals in der Geschichte des Staates bewahrheitet; beim Zerfall Jugoslawiens haben alle involvierten ethnischen Gruppen eine Politik der nationalen Abgrenzung verfolgt. Sprachpurismus wurde mit Hochdruck von allen Seiten betrieben, die Wichtigkeit der eigenen Religion unterstrichen und auf die historische Unterdrückung der eigenen Ethnie hingewiesen.

Aus diesem Grund sei ein kritisches Denken zwingend nötig, und man müsse als junger Mensch, Lehrer, Eltern, Politiker sowie Medienschaffender kritisch hinterfragen, fordert er. Dies sei insbesondere in Bosnien und Herzegowina wichtig, weil alle drei Ethnien immer noch eine andere Version der Geschichte ihrer Nation und Ethnie – von der osmanischen Okkupation bis zum Krieg der 90er Jahren – leben. Leider ist aber ein kritisches Denken unter den aktuellen politischen Umständen nicht immer einfach. Zu einem auch, weil der (Geschichts-)unterricht von oben herab bestimmt wird: die Curricula sind den ethnischen Gruppen angepasst; in der Föderation wird nach dem kroatischen oder bosnischen unterrichtet, und in der Republika Srpska nach dem serbischen Stundenplan.

 

 

“Geschichte ist Teil von uns – sie darf uns aber nicht definieren!”

Trotz der scharfen Worte gegen die “konstruierten” Versionen der ethnischen Geschichte in Bosnien (und auch den Nachbarländern), dürfe man die echte, faktische Vergangenheit nicht vergessen. Das Geschehene, insbesondere die Kriegsjahre, müssen in Erinnerung bleiben. Doch auch hier gibt es Probleme, denn über den Krieg wird in der Schule nicht gesprochen, weil es verschiedene Sichtweisen gibt, und sich die Verantwortlichen nicht auf eine Version einigen können, oder die Version der anderen Ethnien akzeptieren wollen. Um die gleichen Fehler aber nicht wieder zu begehen, müsse ein offener Dialog über das Geschehene herrschen. Dieser fehlt aber aktuell.

Doch auch wenn uns die Vergangenheit – sowie auch die Gegenwart und Zukunft – definiert, dürfen wir ihr nicht zu viel Wert beimessen. Denn, “wenn wir der Vergangenheit zu viel Beachtung schenken, wird unsere Gegenwart unausstehlich sein,” so Bojić. Man müsse im hier und jetzt leben; die Vergangenheit soll nur ein “Erinnerung”  dafür sein, was wir in Zukunft besser machen müssen. Nostalgie kann schön sein, doch ebenso gefährlich, wenn wir ihr und den (oft unkorrekten) Mythen über den Ursprung der eigenen Ethnie verfallen. Und es stelle sich sowieso die Frage, wo man den Strich für den Ursprung einer Nation (Ethnie) zieht, denn Nationen wurden erst im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts definiert, was wiederum den Anspruch einer Nation/Ethnie auf ein Stück Land de-legitimisiert. “Die Römer waren auch in Bosnien; es ist auch ihr Land,” so Bojić. “Wir können nicht immer alles für uns alleine in Anspruch nehmen.” Ein Staat könne mehreren Ethnien gehören.

Zum Schluss seines Referats fordert Bojić die Schüler auf, mehr Gegenwehr gegen die aufgezwängten Tatsachen, Normen und Traditionen zu zeigen – und schliesst seinen Vortrag mit den Worten: “Ihr macht zu wenig. Wieso seid ihr dieser Pink-Mentalität – junge Leute, die sich “Trash-Turbofolk” reinziehen und von Wochenende zu Wochenende leben – verfallen?!”

Die Frage bleibt unbeantwortet; die Schüler verschwinden kurz nach Ende in verrauchten Kaffees. Und ob sie in Zukunft aus eigener Hand etwas bewegen werden können, sei auch dahingestellt. Doch eines hat das Seminar auf jeden Fall bewirkt: Es hat junge Leute mit verschiedenen ethnischen Hintergründen zusammengebracht – was ein Hoffnungsschimmer für die Zukunft ist.