Mir selbst und anderen sage ich, dass ich schon über zwei Jahre und 8 Monate auf dem Balkan lebe, eigentlich in Bosnien-Herzegowina, in Sarajevo. Das ist alles etwas aufgerundet, nicht an einem Stück, auch wenn die Phasen, die ich nicht dort war (Visa-Bestimmungen), eher verschwimmen und mit einander verschmelzen. Nun habe ich Bosnien-Herzegowina nicht endgültig, aber doch verlassen, mit dem Plan erst in ein paar Jahren zurückzukommen. Meine erste Station hat mich nicht besonders weit weggebracht. Eine Busreise von acht Stunden – wohin genau denn? Denn von Sarajevo ist eigentlich so gut wie jeder Ort in einem anderen Land 8 Stunden entfernt – 8 Stunden sind es nach Belgrad, 8 nach Zagreb, 8 nach Dubrovnik oder eben 8 nach Tivat an die montenegrinische Küste. Tivat liegt an der Adria nur einen Hügelkamm entfernt von der bekannten Bucht von Kotor, mit der kleinen denkmalgeschützten Stadt Kotor, die so beeindruckend von einem Felsmassiv bewacht wird.
Doch zurück zu Tivat. Tivat ist eine verwirrende Mischung aus Küstenleben, Alltagsleben und dem Leben der sehr Reichen. Mir war nicht bewusst, an was für einen Ort mein Reisegefährte und ich uns für mehrere Wochen niederlassen würden: Als wir das Stadtzentrum Tivats zum ersten Mal besuchten, fiel uns beiden die Kinnlade sehr weit herunter. Denn Tivat ist die Heimat des vermutlich in Kreisen mit sehr hohem Vermögen renommierten Porto Montenegro – quasi Monaco in klein und sehr viel neuer. Das Grundstück, wo Porto Montenegro entstehen wird, wurde 2006 von dem Ungarisch-kanadischen Millionär Peter Munk für 3.2 Millionen Euro gekauft, mit dem Plan eine Luxusyacht-Marina und Luxus-Unterkünfte zu errichten.
Er befindet sich dort, wo früher einmal die größte Werft Jugoslawiens, die Arsenal-Werft, stand. Heute sind nur noch ein paar jugoslawische U-Boote und Kräne von diesem massiven Arbeitgeber übrig, der Tivat zu einem bedeutendem Hafen im ehemaligen Jugoslawien machte. Auf einer Wanderung wurden mein Wandergefährte und ich von einem älteren Herrn auf Rakija, der Schnaps auf dem Balkan eingeladen, nachdem seine vier Hunde uns erst sehr grimmig ankläfften und später sich auf unseren Schößen tummelten. Nikola, der Halter der Hundebande, lud uns in seinen Unterschlupf ein – vollgehängt mit Tito-Fotografien, uralten Waffen und ausgestopften Tieren. Nikola war mal ein der Arbeiter in der Werft, genauso wie sein Vater und sein Großvater, wie er uns erzählt. Er selbst ginge gar nicht mehr in die Innenstadt und zum Porto Montenegro. Das sei nicht sein Tivat mehr.
Heute ist Porto Montenegro ein hochmoderner Tiefwasser-Yachthafen in der Adria, wo vor allem russische Staatsangehörige investieren und sich vergnügen. Russland ist der größte Investor in Montenegro und ist das Heimatland der meisten Tourist*innen in Montenegro, nur übertroffen von dem Nachbarstaat Serbien.
In den letzten Monaten bekommen der Porto Montenegro und Tivat nochmal eine ganz andere Bedeutung. Wenn man jetzt an der Küste entlang schlendert, ist nicht unbedingt auffällig, dass an jeder Ecke ein sehr teures Auto zu stehen scheint – das ist wohl eher Normalität – sondern woher diese Autos kommen: Die meisten ausländischen Fahrzeuge, die sich hier finden, tragen nicht nur russische, sondern auch ukrainischen Nummernschildern. Und jedes Mal, wenn ich an einem dieser Autos vorbeikomme, frage ich mich, welche Geschichte wohl dahintersteckt: Wer sind diese Menschen, haben sie Russland verlassen, weil sie mit der Invasion der Ukraine nicht einverstanden sind (manche deuten darauf hin, wenn sie ukrainische Flaggen in ihr Auto hängen oder die russische Flagge auf ihren Nummernschildern abkleben), wie fühlt es sich an, in einem Ort wie Tivat zu sein, während im eigenen Heimatland Krieg herrscht? Ich kenne die Antworten auf diese Fragen nicht. Und ich werde solche Fragen auch nicht an eine betroffene Person richten. Aber es ist erstaunlich, wie ein kleiner Ort in Montenegro ein relevanter Schauplatz für einen Krieg in einem anderen Land werden kann.