Die queere Community in der Ukraine konnte sich in den letzten Jahren graduell mehr und mehr Toleranz in der Gesellschaft erarbeiten[1]. Umso größer war die Sorge, dass der flächendeckende Angriffskrieg der Russländischen Föderation die hart erarbeiteten Erfolge wieder zunichtemachen könnte. Die mit Krieg einhergehende Militarisierung weiter Bereiche des alltäglichen Lebens könnte die sukzessive stärker in die Öffentlichkeit getretene queere Community wieder in Unsichtbarkeit und an den gesellschaftlichen Rand drängen, so wurde befürchtet. Doch dies lässt sich nicht bestätigen. Nicht nur schaffte es die queere Community im Angesicht des Krieges ihr Verschwinden aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verhindern, sondern zahllose queere Menschen – insbesondere schwule Männer und lesbische Frauen – zogen an die Front, um die Ukraine zu verteidigen[2]. Einige Mutige bekennen sich ganz offen zu ihrer queeren Identität!
Doch wie auch der Krieg nicht erst am 24. Februar 2022 begann, begann auch der Einsatz queerer Ukrainer*innen im Militär schon früher: Viktor Pylypenko – Vorsitzender des LGBTQ-Militärverbandes und seit 2014 in der Verteidigung der Ukraine tätig[3] – machte seine Homosexualität bereits 2018 öffentlich[4]. Am 8. Februar 2024 verlieh ihm der Kiewer Patriarch Filaret für seinen Militäreinsatz eine Medaille, erkannte Pylypenko diese jedoch zwei Wochen später nach Kenntnis seiner gleichgeschlechtlichen Orientierung wieder ab[5]. Dies sorgte für Entrüstung in den ukrainischen Medien und führte dazu, dass aus Solidarität mit Pylypenko mehrere Militärangehörige dieselbe Medaille verweigerten[6]. Dies verdeutlicht, dass sowohl in der (Zivil-)Gesellschaft als auch im Militär ein positiver Trend im Umgang mit (offen) homosexuellen Menschen stattfindet[7]. Allerdings sind sowohl in Gesellschaft als auch Militär nach wie vor queerophobe Einstellungen vorhanden, die ein Coming-out noch immer erheblich erschweren und für die jeweilige Person schwerwiegende negative Konsequenzen nach sich ziehen können. Die Menschenrechtsorganisation Naš Svit dokumentiert immer wieder Fälle queerophober Gewalt sowohl in der Gesellschaft als auch im Militär[8].
Eine weitere Herausforderung für schwullesbische Soldat*innen ist das Fehlen von jeglicher offiziellen Registrierung einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft in der Ukraine. Zwar sind theoretisch auch gleichgeschlechtliche Partner nach dem Tod des/der Soldat*in berechtigt finanzielle Unterstützung zu erhalten, da das jeweilige Gesetz auch Personen miteinschließt, mit denen die verstorbene Person familienähnlich aber ohne Heirat zusammenlebte, allerdings setzt dies eine eingetragene Lebenspartnerschaft voraus, welche gesetzlich nicht für gleichgeschlechtliche Partnerschaften offen steht[9].
Die genaue Anzahl an queeren Menschen in den ukrainischen Streitkräften ist unbekannt[10], seit 2022 ist die Anzahl sich offen zu ihrer queeren Identität bekennenden Menschen jedoch signifikant gestiegen[11]. Es ist davon auszugehen, dass der Umstand der Sichtbarkeit des Einsatzes queerer Menschen zur Verteidigung der Ukraine die Einstellung der Gesellschaft weiterhin positiv beeinflusst. Daher ist die Möglichkeit sich gefahrlos im Militär zur queeren Identität bekennen zu können äußerst wichtig. Trotz nach wie vor bestehender Queerophobie lassen die wachsende Anzahl an offen queeren Soldat*innen[12] sowie die Solidarität mit Pylypenko erkennen, dass sich die Ukraine in Bezug auf die Gleichstellung der queeren Community mit der restlichen Gesellschaft auf einem guten Weg befindet. Die ukrainische queere Community zeigt mit ihrer Sichtbarkeit im Militär dem Rest der Gesellschaft, dass sie im Krieg nicht tatenlos bleibt, sondern sich aktiv am Kampf gegen die russländische Aggression beteiligt.
Quellen:
Kirche erkennt ukrainischem Soldaten Medaille ab – weil er schwul ist, Mannschaft, 4.3.2024, unter <https://mannschaft.com/a/kirche-erkennt-ukrainischem-soldaten-ehrenmedaille-ab-weil-er-schwul-ist>, 4.12.2024.
Kravčuk, Andrii, The Situation of the Ukrainian LGBTQ Community after the Escalation of Russian Aggression, LGBT Human Rights NASH SVIT Center, 12.5.2022, unter <https://gay.org.ua/en/blog/2022/05/14/the-situation-of-the-ukrainian-lgbtq-community-after-the-escalation-of-russian-aggression/>, 3.12.2024.
Ders. / Zinčenkov, Oleksandr / Ljaščenko, Oleh, LGBTQ and War. A Report on the Specific Problems of the Ukrainian LGBTQ Community since the Beginning of the Russian Invasion’s New Phase, LGBT Human Rights NASH SVIT Center, 22.11.2022, unter <https://gay.org.ua/en/blog/2022/11/22/lgbtq-and-war/>, 4.12.2024.
dies., War and Civil Partnerships. LGBTQ Situation in Ukraine in 2023, LGBT Human Rights NASH SVIT Center, 29.1.2024, unter <https://gay.org.ua/en/blog/2024/01/29/war-and-civil-partnerships-lgbtq-situation-in-ukraine-in-2023/>, 4.12.2024.
Kuzmenchuk, Artem, Viktor „Frenchman“ Pylypenko, QUA – LGBTQ Ukrainians in America, unter <https://qua.community/virtual-pride/viktor-pylypenko/>, 4.12.2024.
Mackenzie, Jean, LGBT Troops on Ukraine’s Front Line Fight Homophobia at Home, BBC News, 25.6.2024, unter <https://www.bbc.com/news/articles/cd1140yv03po>, 4.12.2024.
LGBTQ Situation in Ukraine in January – June 2024, LGBT Human Rights NASH SVIT Center, 21.7.2024, unter <https://gay.org.ua/en/blog/2024/07/21/lgbtq-situation-in-ukraine-in-january-june-2024/>, 4.12.2024.
Ostiller, Nate, Poll: More than 70% of Ukrainians Say LGBTQ People Should Have Same Rights as Any Other Citizen, The Kyiv Independent, 18.6.2024, 5, unter <https://kyivindependent.com/poll-more-than-70-of-ukrainians-say-lgbtq-people-should-have-same-rights-as-any-other-citizen/>, 3.12.2024.
[1] Eine Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie im Juni 2024 ergab, dass 70% der Befragten die Frage, ob queere Menschen die gleichen Rechte haben sollten als nicht-queere mit ja beantworteten. 2010 stimmten dem nur 28% zu (vgl. Nate Ostiller, Poll: More than 70% of Ukrainians Say LGBTQ People Should Have Same Rights as Any Other Citizen, The Kyiv Independent, 18.6.2024, 5, unter <https://kyivindependent.com/poll-more-than-70-of-ukrainians-say-lgbtq-people-should-have-same-rights-as-any-other-citizen/>, 3.12.2024). Dies muss als klarer Fortschritt gewertet werden, allerdings gaben in der gleichen Umfrage 32,1% der Befragten an eine negative Einstellung gegenüber der queeren Community einzunehmen (47,3% waren gleichgültig), vgl. ebenda. Jedoch stimmten unter den Befragten mit negativer Einstellung 51% der Aussage zu, dass queeren Menschen die gleichen Rechte zustehen sollen (vgl. ebenda). Somit lässt sich ein eindeutig positiver Trend in der Einstellung gegenüber queeren Menschen in der Ukraine erkennen.
[2] Homo- und Bisexualität gelten (offiziell) in der Ukraine nicht als Grund vom Militärdienst ausgeschlossen zu werden, gelten jedoch nach wie vor als unerwünscht und können bei der Einberufung und während des Militärdienstes zu Problemen führen (vgl. Andrii Kravčuk, The Situation of the Ukrainian LGBTQ Community after the Escalation of Russian Aggression, LGBT Human Rights NASH SVIT Center, 12.5.2022, 2, unter <https://gay.org.ua/en/blog/2022/05/14/the-situation-of-the-ukrainian-lgbtq-community-after-the-escalation-of-russian-aggression/>, 3.12.2024). Allerdings gaben schwullesbische Militärdienst Leistende in Befragungen an, dass ihnen Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzte tendentiell eher tolerant begegneten (vgl. Andrii Kravčuk / Oleksandr Zinčenkov / Oleh Ljaščenko, LGBTQ and War. A Report on the Specific Problems of the Ukrainian LGBTQ Community since the Beginning of the Russian Invasion’s New Phase, LGBT Human Rights NASH SVIT Center, 22.11.2022, 4, unter <https://gay.org.ua/en/blog/2022/11/22/lgbtq-and-war/>, 4.12.2024; dies., War and Civil Partnerships. LGBTQ Situation in Ukraine in 2023, LGBT Human Rights NASH SVIT Center, 29.1.2024, 1, unter <https://gay.org.ua/en/blog/2024/01/29/war-and-civil-partnerships-lgbtq-situation-in-ukraine-in-2023/>, 4.12.2024).
[3] Vgl. Artem Kuzmenchuk, Viktor „Frenchman“ Pylypenko, QUA – LGBTQ Ukrainians in America, unter <https://qua.community/virtual-pride/viktor-pylypenko/>, 4.12.2024.
[4] Vgl. Jean Mackenzie, LGBT Troops on Ukraine’s Front Line Fight Homophobia at Home, BBC News, 25.6.2024, unter <https://www.bbc.com/news/articles/cd1140yv03po>, 4.12.2024.
[5] Vgl. Kirche erkennt ukrainischem Soldaten Medaille ab – weil er schwul ist, Mannschaft, 4.3.2024, unter <https://mannschaft.com/a/kirche-erkennt-ukrainischem-soldaten-ehrenmedaille-ab-weil-er-schwul-ist>, 4.12.2024; LGBTQ Situation in Ukraine in January – June 2024, LGBT Human Rights NASH SVIT Center, 21.7.2024, 4, unter <https://gay.org.ua/en/blog/2024/07/21/lgbtq-situation-in-ukraine-in-january-june-2024/>, 4.12.2024.
[6] Vgl. Ebenda.
[7] Gleichzeitig verdeutlicht dieses Ereignis auch, dass die meiste Feindseligkeit gegenüber Schwulen und Lesben auf Seiten der Kirchen und Rechtsextremen liegt (vgl. ebenda).
[8] Siehe hierzu die Berichte von Naš Svit auf <https://gay.org.ua/en/about-nash-svit/>, 13.12.2024.
[9] Vgl. LGBTQ Situation in Ukraine in January – June 2024, 1.
[10] Vgl. Kravčuk / Zinčenkov / Ljaščenko, War and Civil Partnerships, 7.
[11] Vgl. Ebenda, 1, 24–25.
[12] An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die steigende Anzahl offen queerer Soldat*innen auch im Zusammenhang mit einer bewussten Abgrenzung des ukrainischen Staates und Gesellschaft von der Ideologie der russkij mir (Russischen Welt) steht, der eine explizite Queerophobie inhärent ist (vgl. Kravčuk, The Situation of the Ukrainian LGBTQ Community, 2).