Als Mitte Mai der Eurovision Song Contest in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ausgetragen wurde, berichtete ein Reporter vom ORF vor Ort über den Gesangswettbewerb. Auf dem Platz vor dem Public Viewing befragte er eine junge Ukrainerin dazu. Nach dem Ende des kurzen Interviews bedankte er sich auf Russisch mit „spasibo“, woraufhin ihn die junge Frau korrigierte: „bei uns heisst es djakuju“, danke auf Ukrainisch.
Schon aus dieser kurzen Episode lässt sich die Brisanz ablesen, die die Sprachenfrage in der Ukraine aufwirft. Zum einen hat man eine grosse Gruppe von Russischsprechenden, die ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und zum anderen verfolgt man auch eine starke Ukrainisierungspolitik, die das Ukrainische als alleinige Staatssprache vorschreibt.
Die Sprachenfrage ist in diesem Zusammenhang eng verbunden mit der Nationenbildung des noch jungen Staates der Ukraine. Nach siebzig Jahren unter der Herrschaft der Sowjetunion, sehen viele Ukrainer das Russische als Sprache der Kolonialmacht Russland. Denn während Jahrzehnten wurde das Ukrainische zu einer provinziellen Sprache degradiert oder sogar verboten. Um eine Karriere anstreben zu können, war das Beherrschen der russischen Sprache für die meisten Ukrainer unumgänglich.
Als 1991 eine unabhängige Ukraine aus der zerbrochenen Sowjetunion hervorging, verfolgte die Regierung das Ziel, das Land als Nation zu etablieren und zu einen. Zu diesem Zweck wurde der Status des Ukrainischen wieder angehoben und es wurde zur einzigen Staatssprache. Auch in den Schulen wurde nun zum Teil neu auf Ukrainisch unterrichtet. Ausserdem war neben der ukrainischen Staatsbürgerschaft keine andere erlaubt, um die Loyalität gegenüber dem Staat zu erhöhen. Diese und andere Massnahmen werden als Ukrainisierung bezeichnet.
Vor dem Hintergrund der sowjetischen Vergangenheit der Ukraine erstaunt dieses gründliche Vorgehen nicht, jedoch lässt es die vielen Russen und russischsprachigen Ukrainer aussenvor, die sich zwar mit der Nation der Ukraine identifizieren, aber nicht mit der vorgeschriebenen Sprache. Denn laut der Verfassung muss der Staat sprachlichen Minderheiten das Recht auf den Gebrauch ihrer Sprache garantieren. So wurde Russisch zumindest in einigen Regionen des Landes zur Amtssprache.
Man kann nämlich nicht abstreiten, dass durch die geschichtlichen Gegebenheiten die Ukraine zu einem zweisprachigen Land wurde, in welchem die meisten Menschen beide Sprachen beherrschen. So gaben in einer 2006 erschienenen Umfrage 30 Prozent der Befragten Russisch als ihre Muttersprache an und 15 Prozent sowohl Ukrainisch als auch Russisch (52 Prozent gaben Ukrainisch an).
Der Sprachgebrauch unterscheidet sich jedoch stark von Landesteil zu Landesteil. Während das Russische im Süden und Osten überwiegt, ist die Zentralukraine sprachlich gemischt. Da die Westukraine erst seit dem Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion gehörte, blieb sie vom russischen Einfluss weitgehend unberührt und orientierte sich seit jeher an Europa. Das lässt sich auch an der Sprache erkennen; das Ukrainische dominiert in diesem Landesteil haushoch und dem Russischen wird hier teilweise mit Argwohn begegnet. Die Diskussion, wer welche Sprache spricht, wird in der Ukraine zunehmend emotional geführt, da es dabei nicht nur um persönliche Präferenzen sondern auch (vermeintlich) um die eigene Identität geht.
Die Verwendung dieser oder jener Sprache durch die Ukrainer erfolgt trotz der heiklen Thematik ganz natürlich und spontan. Ausser beispielsweise den offiziellen Dokumenten, die aufgrund der Amtssprache auf Ukrainisch geschrieben werden müssen, findet man im öffentlichen Raum und in der alltäglichen Kommunikation beide Sprachen vor. So ist es nichts Ungewöhnliches auf Ukrainisch angesprochen zu werden, aber auf Russisch zu antworten. Beide Seiten verstehen in der Regel einander und jeder spricht so, wie es für ihn bequemer ist. Sehr oft trifft man auch auf den Surschyk; eine Mischsprache zwischen dem Russischen und Ukrainischen.
Mit der Besetzung der Krim und den kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten des Landes gewann das Sprachenproblem wieder an neuer Brisanz, als es von der damals neuen ukrainischen Regierung Bestrebungen gab, den Status des Russischen als Regionalsprache abzuschaffen. Die russische Regierung äusserte sich daraufhin mit der Mitteilung, die russischsprachigen Minderheiten im Osten und Süden der Ukraine schützen zu müssen. Diese gegenseitige Aufwiegelung in der Sprachenfrage führte schlussendlich zu einer weiteren Verschärfung des Konflikts.
Quelle Umfrage: Razumkov Centre, 2006: Identity of Ukrainian Citizens. Common and Different. National Security & Defence 79 (7), S. 15-21
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